> > > Streichquartette von Janacek & Haas: Escher String Quartet, Colin Currie
Samstag, 2. Dezember 2023

Streichquartette von Janacek & Haas - Escher String Quartet, Colin Currie

Programmatische Streichquartette


Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Das Escher Quartett legt eine grandiose Einspielung mit Streichquartetten Leoš Janáčeks und Pavel Haas’ vor.

Die vorliegende Aufnahme der wundervollen Streichquartette Nr. 1 und 2 von Janáček sowie des 2. Quartetts (op. 7) von Pavel Haas, die das Escher Streichquartett im Jahr 2023 für das Label BIS vorgelegt hat, kann in der Gesamtschau als wirklich großer Wurf bewertet werden. Die Vitalität, Einsatz- und Spielfreude des 2005 in den USA gegründeten Ensembles sucht ihresgleichen – und so steht der Hörer am Ende der CD vor der rezeptiven Erfahrung eines grandiosen interpretatorischen Ereignisses. Wer diese wertvollen Beiträge zur Streichquartett-Gattung der ersten 20. Jahrhunderthälfte bisher noch nicht kennengelernt hat, wird angesichts einer an Intensität wohl kaum zu überbietenden Leistung noch lange von den Eindrücken zehren.

Die Gründe für so herrliches Quartettspiel müssen neben den interpretatorischen Kompetenzen des Escher Ensembles freilich auch in der dargebotenen Musik selbst gesucht werden. Und hier vor allem in der ausgeprägten Programmatik der Stücke. Das Erste der beiden Streichquartette Janáčeks mit dem Untertitel „Kreutzersonate“, das dieser 1923 und damit erst im Alter von annähernd 70 Jahren unter dem Einfluss Tolstois (und indirekt auch Beethovens) komponierte, bildet ein leidenschaftliches Plädoyer für die Bedürfnisse einer Frau im ausgehenden 19. Jahrhundert nach gesellschaftlicher Unabhängigkeit und Freiheit. Es sind diese Kämpfe weiblicher Emanzipation, die Janáček in moralischer Unterstützung der Protagonistin Tolstois nachzeichnet, was für die damalige Rezeption der Novelle eher ungewöhnlich war. Auch wenn es schwerfällt, die literarischen Szenen eins zu eins im Notentext nachzuvollziehen, bleibt der enge Bezug zwischen Musik und Literatur doch evident. Wer den programmatischen Gehalt der Komposition kennt, wird dem Escher Quartett dankbar sein, die Drastik der emotionalen Prozesse, welche in der Novelle respektive der Musik durchlebt werden, auf solch engagierte Weise dargestellt zu bekommen.

Noch gesteigerter erfährt der Hörer die Psychologisierung von Musik im zweiten Streichquartett Janáčeks, das den Titelzusatz „Intime Briefe“ trägt. Hierbei handelt es sich um ein autobiographisches Bekenntniswerk, das der bereits 74jährige Altmeister als Liebesgeständnis für die damals 36jährigen Kamila Stöslová vorlegte. An Max Brod schrieb Janáček im Zuge der Arbeiten an dem Quartett: „Ist es möglich, öffentlich zu sagen, auf welche Person sich meine Motive beziehen? […] Würde es schlecht aufgenommen werden, wenn dieses geistige Verhältnis, diese künstlerische Beziehung offen eingestanden würde? Natürlich braucht man das Einverständnis der betroffenen Person. Sie will es, weil wir beide, sie und ich, von dem Verdacht einer anderen Art von Beziehung, als sie unsere rein geistige ist, erlöst sein wollen.“ Man könnte lang darüber diskutieren, wie sich die programmatischen Gehalte im Einzelnen konkret im Notentext wiederfinden – dadurch, dass die Hintergründe der Werkentstehung nun einmal bekannt sind, fällt es schwer, diese beim Hören auszuklammern. Zumal das Escher Quartett in seiner interpretatorischen Annäherung offenbar auch von dem biographischen Bezug getragen ist. Anders lässt sich die emotionale Bandbreite, die hier musikalisch abgerufen wird, kaum erklären.

Pastorale Grundstimmung

Ebenso programmatisch aufgeladen, wenngleich von ganz anderer Quelle inspiriert, ist das 2. Streichquartett von dem Janáček-Landsmann Pavel Haas aus dem Jahr 1925, welches mit „Von den Affenbergen“ überschrieben ist. Die pastorale Grundstimmung des Werks drückt sich in zahlreichen lautmalerischen Effekten der vier Sätze aus. Konzeptionell fallen die diversen Einzelszenen nicht auseinander, da Haas die Sätze immer wieder auf das Ausgangsmaterial des Kopfsatzes zurückbezieht und damit eine materiell-zyklische Einheit zwischen dem Disparaten erzeugt. Diese motivischen Verweisstrukturen versteht das Escher Quartett sehr überzeugend herauszuarbeiten, ohne dabei in der Betonung des Wiederkehrenden belehrend zu übertreiben. Im Finalsatz „Wilde Nacht“ (Vivace e con fuoco) setzt Haas zur Verstärkung der Stimmungseffekte Schlaginstrumente ein, was das damalige Publikum irritierte, heute aber schönerweise zum festen Bestandteil der Aufführung zählt.

Nochmal: Die CD ist in jeglicher Hinsicht eine Empfehlung! Eine Kleinigkeit sei abschließend moniert, die freilich den hervorragenden Gesamteindruck nicht schmälern möchte: Gleich zu Beginn des ersten Janacek-Quartetts spielen die Musiker das zweite Motiv des Hauptthemas im Cello wie eine Art Störelement. Vergleicht man den Cello-Einsatz mit anderen Ensembles, so wird dieser Anfangsgedanke hier oftmals sehr viel stimmiger, weil als integrale und nicht irritierende Themengeste präsentiert. Da das Escher Quartett aus der anfänglichen Überakzentuierung kaum wirkliche Konsequenzen für den weiteren Werkverlauf zieht, scheint der Satzeinstieg nicht sonderlich geglückt. Aber dies ist – wie angemerkt – eine Spitzfindigkeit, die fraglos auf der Intelligenz wie Feinfühligkeit des Quartetts gründet und die überaus gelungene Gesamtleistung keineswegs minimieren möchte.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Streichquartette von Janacek & Haas: Escher String Quartet, Colin Currie

Label:
Anzahl Medien:
BIS Records
1
Medium:
EAN:

CD SACD
7318599926704


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Haas, Pavel
Janácek, Leos


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BIS Records

Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees.


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