
Werke von Camille Saint-Saens - Thierry Escaich, Orchestre Royal de Liège, Jean-Jacques Kantorow
Auf der Suche nach der rechten Orgel
Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Jean-Jacques Kantorows Saint-Saëns-Edition mit einem weiteren fulminanten Höhepunkt.
1856 entstand Camille Saint-Saëns‘ letzte ‚normale‘ Sinfonie – ein umfangreiches viersätziges Werk, das angeblich den Ruhm der ewigen Stadt besingt. Ein Programm ist nicht überliefert, und schon kurz nach der Uraufführung 1857 wandte sich der junge Komponist nicht nur von der ganzen Gattung ab, sondern nahm die Sinfonie, ein Werk, das er für einen Kompositionswettbewerb der Société Sainte-Cécile in Bordeaux eingereicht hatte, auch nicht in seinen Werkkatalog auf; eine Veröffentlichung erfolgte erst 1984, mehr als 60 Jahre nach Saint-Saëns‘ Tod.
Dass Saint-Saëns die sinfonische Form beherrschte, hatten schon die beiden früheren Gattungsbeiträge bewiesen, die er mit Opuszahlen versehen hatte. Die große Differenziertheit und Frische, mit der die Sinfonie F-Dur mit dem durchaus nicht hilfreichen Titel 'Urbs Roma' hier dargeboten wird, erweist manchem Zeitgenossen gewollt oder unbewusst die Reverenz. Mendelssohn Bartholdy springt unmittelbar dem Hörer ins Ohr, doch bieten auch Gounod oder Berlioz, Gouvy oder Liszt, Schumann oder Massenet einen naheliegenden Rahmen, hinter deren Folie man das Werk des damals 20-Jährigen hören kann. Die Querverbindungen, die in dieser ungemein frischen, geradezu exuberanten Neueinspielung des Orchestre Philharmonique Royal de Liège zutage treten, und unsere (etwas) größere Kenntnis des auch unkanonischen Repertoires der damaligen Zeit tun ihr Übriges, um die Komposition gänzlich neu zu verorten. Gerade durch die höchst transparente Durchdringung der Orchestertexturen treten Ebenen zutage, die bislang zumeist verdeckt oder unklar waren.
Gefolgt wird das selten zu hörende Jugendwerk von jener Komposition, mit dem Saint-Saëns 1886 im Grunde die Gattung der Orchestersinfonie sprengte. Dreißig Jahre nach 'Urbs Roma' entstanden, hängt der Sinfonie c-Moll op. 78 der etwas irreführende Beititel ‚Orgelsinfonie‘ an, obschon die differenzierte Orchesterbehandlung einen Wert in sich darstellt; neben der Orgel ist etwa auch ein obligates Klavier gefordert. Die Nähe zu den Orchesterwerken Franz Liszts (der kaum mehr als zwei Monate nach der Uraufführung des Werks starb) hilft bei der Einordnung der Komposition, die dennoch ein Solitär im großen Meer spannender Sinfoniekompositionen bleibt. Die vier Sätze sind komplex miteinander verbunden, so dass auf CD nicht selten eine Unterteilung auf drei oder sogar nur zwei Tracks erfolgt.
Obligater Teil des Orchesters
Spätestens seit der ersten historisch informierten Einspielung des Werks 2010 durch Les Siècles unter François-Xavier Roth ist der besondere Wert der Orchestrierung der Komposition, der bis zu Fauré und Ravel reicht, hinreichend bekannt auch jenseits der Orgel, deren Einsatz mit größter Delikatesse zu erfolgen hat. Es handelt sich eben nicht um ein verkapptes Orgelkonzert, sondern die Orgel ist obligater Teil des Orchesters – und dies spiegelt nicht zuletzt eine Entwicklung der Konzertsäle der damaligen Zeit, die nicht nur größer wurden, sondern auch über eine Orgel verfügten. Der Aufnahmeort der vorliegenden Produktion ergab ganz selbstverständlich auch eine überraschend historisch passende Orgel – die Schyven–Orgel in der Salle Philharmonique in Liège wurde 1890 durch Charles-Marie Widor eingeweiht und verfügt besonders über jene feinen Flöten- und Streicherregister, die sich an vielen Stellen ganz organisch in den Orchesterklang einordnen. Eine umfangreiche Restaurierung von 1997 bis 2005 ermöglicht heute ein Wiederhören mit der originalen Klangästhetik.
Jean-Jacques Kantorow strukturiert das Werk in großer architektonischer Klarheit (unverständlich, warum der Beginn des langsamen Satzes nicht durch einen eigenen Trackanfang markiert wird). Der BIS-SACD-Klang ist im besten Sinne reich, dabei immer transparent und gut gestaffelt. Der Streicherklang ist warm und gut ausgewogen, die Bläser sind von großer Exaktheit und offenkundiger großer Spielroutine – eine echte Ensembleleistung unter einem inspirierenden Dirigenten. Auch der Organist Thierry Escaich versteht sich auch als Teil eines größeren Ganzen, so dass alle Facetten der Komposition in dieser vorbildlichen Interpretation ganz natürlich und organisch ineinandergreifen.
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!
Ihre Meinung? Kommentieren Sie diesen Artikel
Jetzt einloggen, um zu kommentieren.
Sind Sie bei klassik.com noch nicht als Nutzer angemeldet, können Sie sich hier registrieren.
Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
![]() Cover vergrößern |
Werke von Camille Saint-Saens: Thierry Escaich, Orchestre Royal de Liège, Jean-Jacques Kantorow |
|||
Label: Anzahl Medien: |
BIS Records 1 |
Medium:
EAN: |
CD SACD
7318599924700 |
![]() Cover vergössern |
Saint-Saens, Camille |
![]() Cover vergössern |
BIS Records Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees. Mehr Info... |
![]() Cover vergössern |
Jetzt kaufen bei... |
Von Dr. Jürgen Schaarwächter zu dieser Rezension empfohlene Kritiken:
-
Neue Referenz: Die erste Folge von Jean-Jacques Kantorows Gesamteinspielungen der Sinfonien von Camille Saint-Saens ist ein voller Erfolg. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, 26.07.2021)
-
Ausnahmewerke: Die Zusammenstellung der vorliegenden Werke von Saint-Saëns unterstreicht die Ausnahmestellung des französischen Komponisten in der Musikgeschichte um die Jahrhundertwende. Weiter...
(Marion Beyer, 27.03.2015)
-
Preiswert und kompetent: Die fünf Sinfonien von Camille Saint-Saëns mit Jean Martinon und dem Orchestre National de l‘ORTF in erneuter Wiederauflage: schon etwas ältere, aber immer noch gute Aufnahmen. Weiter...
(Dr. Aron Sayed, 13.05.2012)
Weitere Besprechungen zum Label/Verlag BIS Records:
-
Grüblerisch und extrovertiert: Olli Mustonen und das Lahti Symphony Orchestra unter Dalia Stasevska spielen seltenes Repertoire des 20. Jahrhunderts: Die jeweils dritten Klavierkonzerte von Einojuhani Rautavaara und Bohuslav Martinů. Weiter...
(Dr. Jan Kampmeier, )
-
Programmatische Streichquartette: Das Escher Quartett legt eine grandiose Einspielung mit Streichquartetten Leoš Janáčeks und Pavel Haas’ vor. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
-
Kunstvolle Aneignung musikalischer Geschichte: Das Orchestre Philharmonique Royal de Liège unter John Neschling beglücken mit Orchestersuiten von Ottorino Respighi. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
Weitere CD-Besprechungen von Dr. Jürgen Schaarwächter:
-
Klangprächtig: Ein äußerst ansprechendes Plädoyer für die Musik Friedrich Gernsheims. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
-
Mehr Männer: Drei Countertenöre, ein Sopranist und ein Tenor gegen zwei Soprane. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
-
Es dreht sich nur um einen: Der Klaviertriokomponist Camille Saint-Saëns als Schöpfer und Nachschöpfer. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
Weitere Kritiken interessanter Labels:
-
Kollaboratives Komponieren: Das Label Kairos präsentiert facettenreiche Ensemblemusik des schwedischen Komponisten Jesper Nordin. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
-
Klangprächtig: Ein äußerst ansprechendes Plädoyer für die Musik Friedrich Gernsheims. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
-
Hoher Abstraktionsgrad: Marco Fusi beeindruckt mit Violin-'Werken' Giacinto Scelsis. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
Jetzt im klassik.com Radio


Portrait

"Man muss das Ziel kennen, bevor man zur ersten Probe erscheint."
Der Pianist und Organist Aurel Davidiuk im Gespräch mit klassik.com.
Sponsored Links
- klassik.com Radio
- Urlaub im Schwarzwald
- Neue Musikzeitung
- StageKit - Websites für Musiker, Veranstalter und Konzertagenturen
Hinweis:
Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers,
nicht aber unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Die Bewertung der klassik.com-Autoren:
Überragend
Sehr gut
Gut
Durchschnittlich
Unterdurchschnittlich