
Bizet: Carmen - Staatskapelle Dresden, Karl Böhm
Bis zum Showdown
Label/Verlag: Profil - Edition Günter Hänssler
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Bizets 'Carmen' aus Dresden 1942.
In neuem Design, dadurch leider auch etwas weniger wertig erscheint die neue Folge der Semperoper Edition. Die Produzenten haben sich keinen Gefallen damit getan, vom vertrauten großflächigen Rot abzugehen und das Cover in eher Billigware evozierender Weise zu gestalten. Immerhin bleibt das innere Bookletdesign unverändert, mit zahllosen Bilddokumenten und vielen spannenden Textbeiträgen, die leider immer wieder eher zu kurz als zu lang geraten. Gerade die Ära Karl Böhm und Böhms Rückkehr nach Dresden lange nach dem Krieg (mit den berühmten Studioeinspielungen von ‚Der Rosenkavalier‘, ‚Elektra‘, ‚Fidelio‘, ‚Die Entführung aus dem Serail‘ und ‚La clemenza di Tito‘) hätte zumindest eines eigenen Absatzes wert sein dürfen.
In heutiger Zeit hat das Tschingderassabum des Opernbeginns, in einer Produktion der Reichsrundfunkgesellschaft am 4. und 5. Dezember 1942, einen recht martialischen Beigeschmack. Glücklicherweise lässt Böhm seine symbolgeladenen Tempi hinter sich, sobald sich der Vorhang öffnet. Mit großem Feingefühl und Differenziertheit gestaltet der Chor die Aufführung über jedes Mittelmaß hinaus. Die deutsche Sprache (die man auch in Horst Steins Berliner Einspielung von 1961 mit Christa Ludwig und einigen Querschnitten unter Wilhelm Schüchter, Herbert Kegel oder Giuseppe Patané hören kann) bleibt für heutige Ohren ungewohnt, doch sie ermöglicht einigen der Solisten und vor allem dem Chor, unmittelbar Ausdruck zu erzeugen; Chordirektor war zu dieser Zeit noch Ernst Hintze, der schon 1926 an der Uraufführung von Hindemiths ‚Cardillac‘ mitgewirkt hatte. Der Dresdner Staatsopernchor ist im Detail viel präziser, in der dynamischen Schattierung viel inspirierter als die Staatskapelle, die nicht schlecht ist, aber eher routiniert aufspielt, was aber auch auf das Konto der Klangrestaurierung klingt (bei Preiser wurde weniger an den Reglern geschraubt, so dass die Musik insgesamt voller und wärmer klingt). Die Präsenz des Klanges ist mit diversen Balanceschwächen, die schon im Quellenmaterial bedingt zu sein scheinen, insgesamt überzeugend, die Textverständlichkeit jeden Moment gewährleistet.
Allererste Reihe
Interessanterweise klingen die Rezitative in deutscher Sprache weniger störend als auf Französisch, vielleicht weil sie eben nicht authentisch, sondern nachkomponiert sind. Böhms Produktion (nebst den teilweise auch heute noch üblichen Strichen auch ohne den Beginn des vierten Akts, so dass Carmens Tod genuiner Teil des dritten Akts wird), die auch schon auf Preiser erschienen war, hier aber nach den Originalbändern neu abgemischt wurde, bietet in den Solopartien alles auf, was damals an der Dresdner Oper Rang und Namen hatte, bis in die kleinen Nebenrollen. Kein Geringerer als Kurt Böhme, später ein Kaspar, Osmin und Ochs auf Lerchenau in ikonischen Produktionen, singt den kleinen Part des Zuniga und macht aus ihm ein wahres Kabinettstück, als Frasquita und Mercédès sind Elfride Trötschel und Helena Rott zu hören, Sängerinnen der allerersten Reihe.
Für die Hauptrollen werden kaum Leichtgewichte aufgeboten. Der Schwede Torsten Ralf, vor allem profiliert als Wagnertenor und Otello, singt den José mit großer Stimme und großem Feingefühl. Er bringt in seinen Part viele Schattierungen und Valeurs, die manch einem späteren Rollenvertreter gänzlich abgehen. In Elisabeth Höngen in der Titelrolle hat er eine nicht minder fein gestaltende Partnerin. Die Stimme der Sängerin, die Böhm als die ‚größte Tragödin der Welt‘ bezeichnete, ist im Piano nicht immer ganz sicher, doch spätestens wenn sie voll aussingen und ihrer Emotion freien Lauf lassen kann, kann man sich der Sängerin, die eine Martha Mödl vergleichbare Ausstrahlung gehabt haben muss, nicht entziehen, obschon auch ihre Stimme, wie auch jene von Mödl oder Astrid Varnay, nicht im eigentlichen Sinn als schön zu bezeichnen wäre. In der Auseinandersetzung zwischen Höngen und Ralf findet die Oper ihren unbestrittenen Höhepunkt.
Paradepartie
Ich habe eine Schwäche für Josef Herrmann, den Escamillo dieser Produktion, seit ich seine Stimme zum ersten Mal hörte – gerade als Wagnerbariton ist er in meinen Augen international viel zu unbekannt, nicht zuletzt weil es in seiner Zeit eine ganz beachtliche Zahl hervorragender Wagnerbaritone gab. Der Escamillo war klanglich nicht seine Paradepartie – man spürt die Bühnenpräsenz, aber auch das etwas fremde Idiom –, selbst wenn Bizets Oper, wie das damals häufiger üblich war und auch hier in Momenten zu hören ist, eher als Verismowerk gibt. Mit etwas unstetem, überreifem und etwas provinziellem Sopran fällt Elfriede Weidlich als Micaëla im Solistenquartett hörbar ab, so dass das Duett José-Micaëla im ersten Akt wie auch ihre Arie einigen Durchhaltewillen erfordern.
Das war aber noch nicht alles. Es gibt eine Bonus-CD. Bonus-CD? Ein ganzes Feuerwerk historischer ‚Carmen‘-Ausschnitte mit Solisten der Dresdner Oper von 1905 bis 1949. Da haben wir Maria Cebotari, Barbara Kemp, Eva von der Osten, Richard Tauber, Tino Pattiera und Robert Burg, und es wäre eine eigene Rezension zu schreiben allein über diese CD, um die vielen Facetten, die ergänzend angerissen werden, hinreichend zu würdigen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Bizet: Carmen: Staatskapelle Dresden, Karl Böhm |
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Label: Anzahl Medien: |
Profil - Edition Günter Hänssler 4 |
Medium:
EAN: |
CD
881488160765 |
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Bizet, Georges |
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