
Philippe Manoury: Lab.Oratorium - Rinnat Moriah, Tora Augestad, Gürzenich-Orchester Köln, Francois-Xavier Roth
'Spannungslage einer Wohlstandsgesellschaft'
Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Klanglich vorzüglicher Uraufführungsmitschnitt eines vielgestaltigen 'Oratoriums'.
Philippe Manoury gilt, so sein Management, als einer der wichtigsten französischen Komponisten und als Forscher und Wegbereiter auf dem Gebiet der Musik mit Live-Elektronik. Der aus Tulle (Nouvelle-Aquitaine) stammende und in Strasbourg lebende Komponist und Programmierer, der 2022 70 Jahre alt wird, hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt auch mit deutschsprachiger Lyrik befasst.
Komplexes Klang- und Formkonzept
2016-19 erlebte die ‚Trilogie Köln‘ in der dortigen Philharmonie ihre Uraufführung, auf deren räumliches Konzept sie zugeschnitten ist. ‚Lab.Oratorium‘ fordert zwei Schauspieler, zwei Solosängerinnen, Kammerchor, großen Chor, Live-Elektronik und Orchester. Es rekurriert auf die beiden anderen Teile (‚Ring‘, Uraufführung 2016, mit einem 120 Mann starken Orchester, und das weniger aufwändige Flötenkonzert ‚Saccades‘), doch es ist unzweifelhafter Höhepunkt dieser Trilogie. Inspiriert durch die Inszenierungsstrategien im zeitgenössischen Theater, namentlich durch seine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Nicolas Stemann, intensiviert Manoury das Zusammenspiel von musikalischer und theatralischer Idee. Gemeinsam mit François-Xavier Roth, mit dem er schon 2013 in Donaueschingen zusammenarbeitete, entwickelte er das komplexe Klang- und Formkonzept des fast 80-minütigen Werkes in zehn Kapiteln.
Inhaltlich kreist das Werk um das Sterben Tausender Menschen auf der Flucht im Mittelmeer. Im Gespräch mit Seenotrettern und Geflüchteten haben Stemann und Manoury ihr Bewusstsein für diese Krise geschärft. In krassen Farben vereint das Werk ‚die Spannungslage einer Wohlstandsgesellschaft auf der Suche nach Unterhaltung und der Unmöglichkeit, vor der Wirklichkeit die Augen zu verschließen‘ (Patrick Hahn). Texte von Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek und Georg Trakl bilden die Grundlage für die Komposition, deren Konzept Henzes ‚Floß der Medusa‘ nicht ganz unähnlich ist. Die Philharmonie wird zu einem dekadenten Kreuzfahrtschiff – oder ist es eine Arche? Ingeborg Bachmanns Gedicht ‚Reklame‘ führt mitten ins Herz des ‚Lab.Oratorium‘: ‚Wohin aber gehen wir?‘ fragt darin das lyrische Ich. ‚ohne sorge sei ohne sorge‘ antwortet eine zweite Stimme, ‚heiter und mit musik‘. Doch die zweite Stimme verstummt angesichts der Realitäten.
Perfektes Timing
François-Xavier Roth, Meister des frühen 19. wie des frühen 21. Jahrhunderts, erweist sich als überlegener Koordinator der unterschiedlichen Klanggruppen, mit perfektem Timing und feinem Gespür für Ernst, schrägen Humor und bittere Ironie. Die genau tarierten instrumentalen Feinheiten kommen ebenso zum Tragen wie die Kraft der ‚klanglichen Masse‘, die Verwendung von Zitaten und Anspielungen oder die Details der Chorpolyphonie. Das SWR Vokalensemble (Einstudierung Léo Warynski) und der Lab.Chor (Michael Ostrzyga) haben ebenso wesentlichen Anteil am Geschehen wie das Gürzenich-Orchester Köln und die Solisten Rinnat Moriah (Sopran), Tora Augestad (Mezzosopran), Patrizia Ziolkowska und Sebastian Rudolph (Sprecher); die digitalen Klangeffekte sind perfekt gesetzt und das Ergebnis ein beeindruckendes, bewegendes, hochaktuelles Ganzes von großem musikalischen Reichtum. Besonders ist, das sei noch einmal ausdrücklich wiederholt, die ausgezeichnete Aufnahmetechnik (Stephan Cahen), die die ganzen räumlichen Möglichkeiten der Kölner Philharmonie sozusagen zum Klingen bringt.
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!
Ihre Meinung? Kommentieren Sie diesen Artikel
Jetzt einloggen, um zu kommentieren.
Sind Sie bei klassik.com noch nicht als Nutzer angemeldet, können Sie sich hier registrieren.
Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
![]() Cover vergrößern |
Philippe Manoury: Lab.Oratorium: Rinnat Moriah, Tora Augestad, Gürzenich-Orchester Köln, Francois-Xavier Roth |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: Spielzeit: |
WERGO 1 08.04.2021 78:44 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
4010228739626 WER 73962 |
![]() Cover vergössern |
WERGO Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt. Mehr Info... |
![]() Cover vergössern |
Jetzt kaufen bei... |
Weitere Besprechungen zum Label/Verlag WERGO:
-
Faszinierende Klangwelten aus der Quelle der Stille: Matthias Kaul überzeugt mit John Cage. Weiter...
(Michael Pitz-Grewenig, )
-
Klanglich zerrissen: Diese Einspielung von Manfred Trojahns zweitem Streichquartett hat Referenzcharakter. Weiter...
(Michael Pitz-Grewenig, )
-
Hello again: Ennos Komposition ist ein Festival elektronischer Klänge. Weiter...
(Michael Pitz-Grewenig, )
Weitere CD-Besprechungen von Dr. Jürgen Schaarwächter:
-
Es dreht sich nur um einen: Der Klaviertriokomponist Camille Saint-Saëns als Schöpfer und Nachschöpfer. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
-
Kein überzeugendes Plädoyer: Dem Constanze Quartett mangelt es an rhetorischer Überzeugungskraft, um drei Streichquartette Emilie Mayers zu einem besonderen Erlebnis zu machen. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
-
Pionierleistungen: Bedeutsame Dokumente der Havergal-Brian-Diskografie. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
Weitere Kritiken interessanter Labels:
-
Großes Violinkonzert – großartig interpretiert: Ewelina Nowicka und das Polish National Radio Symphony unter Zygmunt Rychert meistern (unbekannte) Violinwerke von Ludomir Różycki. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
-
Mehr Fantasie als Ordnung: Federico Colli fasziniert und irritiert mit Klavierwerken W. A. Mozarts. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
-
Lohnende Neuauflage: Hochwertige Liszt-Aufnahmen von Michael Korstick, gesammelt in einer neuen Edition. Weiter...
(Oliver Bernhardt, )
Portrait

"Casals kämpfte für den Frieden."
Roger Morelló über seine neue CD, die dem katalanischen Cellisten Pau Casals gewidmet ist.
Sponsored Links
- Opernreisen und Musikreisen bei klassikreisen.de
- Konzertpublikum
- Musikunterricht
- klassik.com Radio
- Urlaub im Schwarzwald
- Neue Musikzeitung
- StageKit - Websites für Musiker, Veranstalter und Konzertagenturen
Hinweis:
Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers,
nicht aber unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Die Bewertung der klassik.com-Autoren:
Überragend
Sehr gut
Gut
Durchschnittlich
Unterdurchschnittlich