
Jascha Horenstein - Reference Recordings - Wiener Symphoniker, London Symphony, Claudio Arrau, Ivry Gitlis, David Oistrach
Interpretation triumphiert über Klang
Label/Verlag: Profil - Edition Günter Hänssler
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Die mangelhafte Recherche, die dieser CD-Box zugrundeliegt, ist Jascha Horensteins Referenzeinspielungen nicht würdig.
Der aus Kiew gebürtige Dirigent Jascha Horenstein (1898–1973), später naturalisierter Amerikaner und vor allem in Wien und London tätig, gilt unter Kennern als besondere Größe, der aber durch fehlende Förderung durch ein größeres Schallplattenlabel nie die hinreichende Bekanntheit erreicht hat – viele seiner Einspielungen erfolgten für das amerikanische Label VOX. Auf 10 CDs fasst Profil Hänssler nun ein paar seiner Schallplattenveröffentlichungen zusammen, leider in äußerst minderwertiger Dokumentation. Dass die Aufnahmedaten nur annäherungsweise und teilweise eklatant fehlerhaft mitgeteilt werden, ist ebenso ärgerlich wie die ungeprüfte Zitation der Orchesternamen – das mehrfach gelistete Pro Musica Orchester Wien ist niemand anders als die Wiener Symphoniker jenseits ihres Vertrages mit der Schallplattenfirma Philips (wer genauere Informationen sucht, wird bei der Konsultation der Horenstein-Diskografie im Internet schnell fündig, die nur kleinere Schreibfehler enthält). Die Zahl der vorgestellten Werke ist überschaubar, da zumeist musikalische Schwergewichte dargeboten werden und der verfügbare Platz so schnell verbraucht ist.
Vier Bs
Die Box präsentiert vornehmlich traditionelles Repertoire, die drei großen Bs Beethoven, Brahms, Bruckner (zu Bach siehe unten). Die Wiener 'Eroica' vom frühen Februar 1953 (nicht aus dem Jahr 1955) ist in den Tempi bedächtig, aber von starker Innenspannung. Schon in der Zeit der Weimarer Republik hatte Horenstein als Beethoven-Dirigent für Furore gesorgt, und die Studioaufnahme von 1953 gilt als seine beste erhaltene Einspielung der Sinfonie. Leider hören wir in der vorliegenden Veröffentlichung ein nur sehr minderwertiges Mastering von Schallplatte, teilweise mit noch zu hörenden Knacksern. Wer hören möchte, was Horenstein gemeint hat, der sei auf die Veröffentlichung des vornehmlich online tätigen Labels Pristine Audio verwiesen, die die Klanglichkeit und die Stimmung der Interpretation um ein Vielfaches besser hörbar macht.
Von Johannes Brahms enthält die Box das erste Klavierkonzert, mit Claudio Arrau und dem französischen Rundfunkorchester – ein Livemitschnitt aus Montreux vom 17. September 1964 (nicht von 1962), der aber im vorliegenden Fall klanglich deutlich älter klingt. Die Intensität der Interpretation, gerade des Orchesterparts, ist beeindruckend, und auch Arrau befleißigt sich eines herben, großen, ‚tragischen‘ Tons, der die Aufführung zu einem Monument erhebt. Der Klavierpart ist klanglich etwas zu stark im Vordergrund, doch die Aufführung triumphiert deutlich über die Materie.
Wuchtig und bewegend
Unter anderem als Bruckner-Dirigent ist Horenstein legendär, und seine Studioproduktion der Achten vom September 1955 (nicht 1954) mit den Wiener Symphonikern ist trotz der hier abermals zu hörenden klanglichen Unzulänglichkeit von wegfegender Wucht und bewegt zutiefst. Das Scherzo zeigt das Orchester in Höchstform – wer es in ungestörter Klanglichkeit erleben will, sei abermals auf Pristine Audio verweisen, einem Label, das bei seinen Produktionen eng mit Misha Horenstein zusammenarbeitet.
Zuletzt noch ein ‚kleines B‘: Bruchs 'Schottische Fantasie' hören wir in einer Studioaufnahme mit dem London Symphony Orchestra und dem Solisten David Oistrach (nicht in der Oistrach-Box von Profil Hänssler enthalten) vom 24. September 1962. Klanglich sind wir von allen anderen Einspielungen der Box weit entfernt – der Stereoklang der Decca-Schallplatte erhebt sich meilenweit über dem sonst hier zu hörenden Monoklang. Die 'Schottische Fantasie' wurde für die Schallplatte kurzfristig eingespielt, und so klingt die Interpretation vom Solisten her eher sentimental denn emotional tatsächlich involviert; selbst das Finale wird sauber, aber eher gefühllos exekutiert.
An Musik der sogenannten neudeutschen Schule hat Horenstein nicht viel eingespielt – von Liszt sind zwei Interpretationen der 'Faust-Sinfonie' erhalten, von Wagner nur die 'Faust-Ouvertüre', dazu das 'Lohengrin'-Vorspiel sowie Vorspiel und Liebestod aus 'Tristan und Isolde' mit den Bamberger Symphonikern (sowie, für Reader’s Digest, drei weitere Orchesterstücke mit dem Royal Philharmonic Orchestra). Mehr Interpretationen sind von Musik von Richard Strauss bekannt – in der vorliegenden Box haben wir nur zwei von drei Tondichtungen, die bei VOX veröffentlicht worden waren ('Till Eulenspiegels lustige Streiche' fehlen hier). 'Don Juan' und 'Tod und Verklärung', gleichfalls mit den Bamberger Symphonikern vom September 1954, leiden abermals unter dem extrem muffigen Ton – die auf YouTube hinterlegten Soundfiles klingen nicht schlechter.
Das Doppelalbum mit 'Faust-Sinfonie' und 'Faust-Ouvertüre' mit dem Südwestfunk Sinfonieorchester Baden-Baden vom 24.–27. Oktober 1957 (nicht 1956) mit dem Solisten Ferdinand Koch ist von der Intensität der Ausführung deutlich geglückter als die englische Produktion von 1972, nicht zuletzt weil der Solotenor hier der deutschen Sprache mächtig ist. Die Klangtechnik der ganzen Platte ist erfreulich klar und durchhörbar, sogar gut tiefengestaffelt (nicht ganz überraschend für eine deutsche Stereoproduktion so früher Zeit), in den Extremen aber ‚egalisiert‘; außerdem gibt es zahlreiche Ecken und Kanten, die im Pristine-Remastering noch optimiert wurden.
Hypnotischer Sog
Als Mahler-Dirigent war Horenstein schon tätig, als viele der späteren berühmten Mahler-Exegeten die Partituren noch gar nicht kannten: Die Box enthält neben den Sinfonien 1 und 3 auch die 'Kindertotenlieder', letztere mit dem Bariton Heinrich Rehkemper und dem Orchester der Berliner Staatsoper aus dem Jahr 1928. Diese Weltersteinspielung (!) wird offenbar deutlich zu langsam abgespielt (man vergleiche etwa die Preiser-Überspielung), was aber der Musik einen hypnotischen Sog verleiht (allerdings wabert Rehkempers Bariton so beachtlich). Der expressionistische Aspekt der Musik erfährt hier eine deutliche Betonung.
Die Wiener Studioaufnahme der Ersten Sinfonie vom Februar 1953, ebenfalls in hervorragender Klangqualität auf Pristine Audio vorgelegt und hier ebenfalls in deutlich schlechterem Klang, zeichnet sich durch präsenten Klang und starke Ausarbeitung der großen Satzteile aus. Die VOX-Aufnahmequalität vereinzelt die Solobläser gelegentlich etwas, was aber den Gesamteindruck kaum mindert; die Exzesse des Finales nehmen viele ‚Eigenheiten‘ Leonard Bernsteins vorweg. Der Livemitschnitt der Dritten Sinfonie aus der Londoner Royal Festival Hall vom 16. November 1961 mit dem London Symphony Orchestra und der Altistin Helen Watts wurde mehrfach veröffentlicht, u. a. auf Pristine Audio und BBC Legends. Der vorliegende Transfer ist leider der minderwertigste der genannten. Die Sinfonie lag Horenstein nicht nur deswegen am Herzen, weil er Eigentümer einer handsignierten Notenausgabe gewesen war. Neben dem vorliegenden Mitschnitt gibt es eine berühmte Studioproduktion von 1970 gleichfalls mit dem London Symphony Orchestra, in jedem der sechs Sätze deutlich getragener noch als der Live-Mitschnitt, aber von unvergleichlicher Klangkultur und nicht minderer emotionaler Dichte als die frühere Aufführung.
Musik des 20. Jahrhunderts
Als Exegent von zeitgenössischer Musik profilierte sich Horenstein mit Musik von Karol Rathaus, dirigierte aber 1950 auch die Pariser Erstaufführung von Bergs 'Wozzeck' und machte 1953 die erste (gekürzte) Gesamtaufnahme von Janáčeks 'Aus einem Totenhaus' (für den französischen Rundfunk). Dennoch muss es überraschen, wie bedächtig Horensteins Tempowahl bei Janáčeks 'Sinfonietta' bei der Einspielung mit den Wiener Symphonikern von 1955 (nicht 1956) ist. Dies erhöht (trotz des problematischen Transfers – die VOX-Wiederveröffentlichung von 2001 ist nicht optimal, aber deutlich überzeugender) die klangliche Durchhörbarkeit. Gleiches gilt für 'Taras Bulba', diesmal gar mit noch problematischerem Quellmaterial (die Schallplatte knistert erheblich).
Von Hindemith existieren zwei Horenstein-Einspielungen der Sinfonie 'Mathis der Maler' – die eine in Stereo mit dem London Symphony Orchestra 1972, die andere ein Pariser Live-Mitschnitt von 1954. Leider ist der Transfer derart grobschlächtig, dass man sich als Hörer kaum eine Vorstellung von Horensteins Intentionen machen kann – dynamische Schattierungen fehlen ebenso wie klangliche Differenziertheit, beides war in der Aufführung sicher vorhanden (allerdings offenbar leider auch ein nicht ganz glücklich eingefangener Solotrompeter).
Voller Innenspannung
Während Horensteins Einspielungen von Stravinskys 'Psalmensinfonie' und 'Le sacre du printemps' auf Pristine Audio wiedervorgelegt worden ist, ist dies bei der hier zu hörenden Aufnahme der 'Feuervogel'-Suite mit dem SWF-Orchester 1957 bislang nicht erfolgt (auch nicht in den eigenen CD-Reihen des SWR). Horensteins Stravinsky, abermals in gutem Stereo, ist voller Innenspannung und Energie, sämtliche Einspielungen aus Baden-Baden sicher der Höhepunkt der ganzen Box, weil sich intensive interpretatorische Auseinandersetzung und sorgfältiges Klangbild vorzüglich vereinen.
Merkwürdigerweise fällt die angeblich zeitgleich entstandene Aufnahme von Schönbergs 'Verklärter Nacht' und der 'Kammersinfonie' klanglich abermals stark ab – ein weiteres Mal muss man auf die vorzügliche Veröffentlichung auf Pristine Audio zurückgreifen, die Horensteins Intentionen in beeindruckender Klarheit vermittelt. Horensteins Verständnis dieser Musik kommt in seinen Interpretationen aufs Vorzüglichste zum Tragen.
Vlado Perlemutter und Ivry Gitlis sind die Solisten in Ravels Klavierkonzert G-Dur und Bartóks Zweitem Violinkonzert aus Paris bzw. Wien jeweils 1955. Horenstein lässt den Solisten hier mehr Raum als Arrau bei dem Brahms-Konzert – besonders Gitlis überzeugt durch große interpretatorische Dichte und intimes Verständnis der Musik; doch auch Perlemutter lässt zusammen mit Horenstein keine Wünsche offen. Die Klangqualität dieser CD ist akzeptabel, aber nicht berauschend.
Ein wenig mag man bedauern, dass die hier vorliegende Auswahl aus Horensteins klanglichem Nachlass so uneinheitlich und scheinbar nicht zielgerichtet ist, auch ohne Blick auf die sonstige diskografische Situation. Nach anderen seltenen Horenstein-Klangdokumenten wird man weiter jagen müssen, und in vielen Fällen ist einem mit anderen Veröffentlichungen einfach besser bedient als mit der vorliegenden billig ausgestatteten Box.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Jascha Horenstein - Reference Recordings: Wiener Symphoniker, London Symphony, Claudio Arrau, Ivry Gitlis, David Oistrach |
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Label: Anzahl Medien: |
Profil - Edition Günter Hänssler 10 |
Medium:
EAN: |
CD
881488190144 |
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