> > > Sciarrino, Salvatore: Sämtliche Werke für Violine & Viola
Freitag, 2. Juni 2023

Sciarrino, Salvatore - Sämtliche Werke für Violine & Viola

Erkundung klanglicher Zwischenbereiche


Label/Verlag: Stradivarius
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Marco Fusi widmet sich auf seiner neuesten CD den solistischen Werken für Violine und Viola von Salvatore Sciarrino.

Man hört vor allem leise Klänge: ein aus Flagolettpassagen zusammengesetztes Flirren, zu leisem Rauschen zusammenfindende Arpeggien, Geräuschspuren von unterschiedlicher Dichte, deren An- und Abschwellen an menschlichen Atem gemahnt, dazwischen gelegentlich auch die Einlagerung kurzer Forte-Akzentuierungen. In seinen 'Sei capricci per violino solo' (1976) tritt Salvatore Sciarrino in die Fußstapfen der großen Virtuosenmusik aus dem 19. Jahrhunderte, knüpft die schwierigen Spieltechniken allerdings an eine für ihn charakteristische Auflösung des Klangs in Oberton- und Geräuschbestandteile. Resultat ist eine zyklische Abfolge von Stücken, in der die Spuren von Paganinis Capricci op. 1 bewahrt sind und in extrem körperbetonten Aspekten virtuosen Violinspiels nach außen brechen (wie im erregten 'Capriccio III' oder in den wie Nadelstiche wirkenden Akzentuierungen aus 'Capriccio IV') oder in atmosphärischen und manchmal (wie im 'Capriccio II') geradezu zauberhaft funkelnden Klangverläufen verweilen.

Mit 20 Minuten Dauer bilden die 'Sei capricci', mittlerweile im Repertoire vieler Geiger angekommen, den umfangreichsten Beitrag, den Sciarrino bislang zur Literatur für solistische Violine beigesteuert hat. Naturgemäß stehen sie im Mittelpunkt dieser neuen Produktion des Labels Stradivarius. Der Geiger Marco Fusi, der gerade erst mit seiner bei Kairos erschienenen Aufnahme von Pierluigi Billones 'ITI KE MI' für Violine (1995) und 'Equilibrio. Cerco' für (2014) eine CD mit solistischen Streicherwerken veröffentlicht hat und diesem Hauptwerk Sciarrinos aus der Bewegung des Atems heraus eine prägnante, spannungsreiche Klanggestalt verleiht, geht jedoch weit über die Präsentation der Capricci hinaus und versammelt sämtliche Kompositionen für Violine und Viola – insgesamt sechs an der Zahl –, die der Italiener seit den 1970er Jahren geschrieben hat. Auch wenn die vom Komponisten eingesetzten musikalischen Gestaltungsmittel über den Zeitraum von vier Jahrzehnten hinweg generell gleich geblieben sind, ist das Ergebnis dieser Zusammenstellung doch erstaunlich abwechslungsreich.

Da ist beispielsweise das Gegenstück zu den 'Sei caprici', der kurz zuvor entstandene Zyklus 'Tre notturni brillanti' für Viola (1974–75), in dem Sciarrino die Möglichkeiten des tieferen Streichinstruments auslotet und zu einem nuancenreichen Umgang mit den geforderten Klanggebungsarten herausfordert. Fusis Zugang ist traumhaft sicher und wirkt gelegentlich (so im 'Notturno I') gar verspielt, sodass die erzeugten Flageolettklänge ineinanderfließen und – trotz der auch hier (besonders im 'Notturno II') gelegentlich auftretenden Akzentuierungen – förmlich im Raum zu schweben scheinen. Dass Fusi nicht nur ein großartiger Geiger, sondern auch ein glänzender Violaspieler ist, kann man indes gleich beim Eingangsstück der CD wahrnehmen, dem kurzen 'Ai limiti della notte' (1979), das er, durch den poetischen Titel Sciarrinos angeregt, mittels seines sorgfältig die Grenzen zwischen Klang und Geräusch austastenden Spiels zu einer Szene voller Schattenwürfe und nächtlich verwischter Konturen formt.

Neben der Miniatur 'Per Mattia' (1975) enthält die CD in Ersteinspielungen auch Sciarrinos jüngste Violinstücke, das 'Capriccio di una corda' für Violine (2009) und 'Fra sé' (2009), gleichfalls eine Art Capriccio für die tiefste Violinsaite. Im 'Capriccio di una corda' setzt Sciarrino (wie auch in seinem 2012 komponierten Violinkonzert 'Giorno velato presso il lago nero') stärker auf die Nähe zu seinem charakteristischen, aus den Opern bekannten Vokalstil – die sogenannte 'sillabazione scivolata' –, dessen von festgehaltenen Tonhöhen ausgehenden, in Glissandi unterschiedlicher Reichweite, Dauer und Intensität mündenden Artikulationsreichtum Fusi mit berückender Genauigkeit und deutlicher Nähe zur menschlichen Stimme umsetzt. In 'Fra sé' dagegen komponiert er eine nahezu ununterbrochene Linie, die ihr Profil aus den ständigen Übergängen zwischen geformtem, gleitenden Ton, Flageolett und Geräusch erhält. All dies ist aufnahmetechnisch hervorragend eingefangen und wird durch einen in italienischer und englischer Sprache abgedruckten Booklettext von Andrea Bedetti ergänzt, der eine gute Einführung in Sciarrinos Klangdenken und den Umgang mit feinen klanglichen Extremwerten bietet.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:






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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Sciarrino, Salvatore: Sämtliche Werke für Violine & Viola

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Stradivarius
1
02.06.2017
Medium:
EAN:

CD
8011570370570


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Stradivarius

Das 1988 gegründete Label STRADIVARIUS hat sich auf dem internationalen Markt als unabhängige Schallplattenfirma durchgesetzt, die vor allem auf zwei musikalische Gattungen spezialisiert ist: klassisch - aus der Renaissance und dem Barock - (mit der Reihe Dulcimer) und zeitgenössisch (mit der Reihe Times Future). Diese programmatische Entscheidung kommt aus dem Willen, eine ganz bestimmte und bezeichnende Rolle im heutigen Schallplattenumfeld zu spielen. Insbesondere hat STRADIVARIUS immer das Ziel verfolgt, den Vorrang italienischen Komponisten und Interpreten zu geben, um die bemerkenswertesten italienischen Kulturdarsteller auf aller Welt kennenlernen zu lassen.

In einem weiten Bereich ist STRADIVARIUS tätig: geistige, säkulare, Vokal-, Instrumental-, Solo-, Kammer- und Orchestermusik. Es gibt viele Beispiele seltener Registrieren, die als außerordentliche Kunstwerke weltweit betrachtet werden, wie zum Beispiel die Serie Un homme de concert, die die Zusammenarbeit mit dem berühmten Sviatoslav Richter offiziell festgelegt hat.

Was das zeitgenössische Repertoire betrifft, ist STRADIVARIUS im Laufe der Jahre, dank der Reihe Times Future, ein Bezugspunkt geworden, indem sie Werke von Franco Donatoni, Salvatore Sciarrino, Bruno Maderna, Goffredo Petrassi, Ivan Fedele, Luis De Pablo, Toshio Hosokawa und viele andere veröffentlicht hat.

Bruno Canino, René Clemencic, Alan Curtis, Emilia Fadini, Monica Huggett, Lucas Pfaff, Arturo Tamayo, Maggio Musicale Fiorentino, Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI, Orchestra Verdi di Milano, Orchestre Philarmonique de Radio France, Orquesta y Coro de Madrid: Sie sind nur einige der Musiker und Formationen, die CDs für STRADIVARIUS aufgenommen haben.

Mit der Zeit ist das Bedürfnis entstanden, den Verlegervorschlag weiter zu diversifizieren; dadurch sind wichtige Reihen geboren, und zwar Guitar Collection (unter der Leitung von Frédéric Zigante), Ricordi Oggi (Ergebnis der Zusammenarbeit unter Stradivarius, dem Ricordi Universal Verlag und den Erben des Malers Emilio Tadini) und Milano Musica Festival (in Zusammenarbeit mit Milano Musica und RAI Radio3). Letzte in zeitlicher Reihenfolge ist die Landscape Serie, mit der STRADIVARIUS ihre Bereitschaft beweist, innovative Projekte zu verwirklichen.


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