> > > Gilse, Jan van: Eine Lebensmesse. Oratorium nach Richard Dehmel
Montag, 2. Oktober 2023

Gilse, Jan van - Eine Lebensmesse. Oratorium nach Richard Dehmel

Auf Silbergrund


Label/Verlag: cpo
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Es ist sehr verdienstvoll, Jan van Gilses opulente 'Lebensmesse' als Aufnahme zugänglich zu machen. Bei den Choranteilen und den Gesangssolisten ist nicht alles optimal, im großen Ganzen ist dies aber eine solide Einspielung.

Wie hart umkämpft der Musikmarkt um 1900 schon war, lässt sich an dem niederländischen Komponisten Jan van Gilse (1881–1944) sehen. Trotz seiner Ausbildung in Köln und Berlin und einer wichtigen Lebensphase in München sowie einer weiteren in Berlin ist er im deutschsprachigen Raum heute nahezu vollständig vergessen, während er nachhaltiger Verdienste wegen in den Niederlanden zumindest einen Ehrennamen hat (er war während des Dritten Reiches im niederländischen Widerstand aktiv und musste miterleben, wie seine beiden Söhne, ebenfalls im Widerstand aktiv, von den Besatzern umgebracht wurden). Gilses Nähe zur deutschen Kultur zeigt sich auch in vielen seiner Kompositionen. Es ist interessant zu sehen, dass er – wie ein anderer nicht deutscher Komponist, Frederick Delius – eine 'Lebensmesse' schrieb, die unter Verzicht auf religiöse Topoi die Musik ins säkularisierte 20. Jahrhundert führen wollte – Vaughan Williams‘ 'Sea Symphony' geht in dieselbe Richtung und ist auch ganz zeitgenössisch. 1904 war die Komposition auf einen Text von Richard Dehmel bereits fertig, die aber erst 1909 im Druck erschien (nicht zuletzt weil Dehmel in gewissen Kreisen durchaus kritisch angesehen wurde). Das knapp einstündige Werk erlebte seine Uraufführung schließlich 1911 in Arnheim; wie erfolgreich die Komposition im deutschsprachigen Raum war, berichtet der umfangreiche Booklettext leider nicht.

Der vorliegende Mitschnitt aus Vredenburg mit dem Radio Filharmonisch Orkest Hilversum unter der Leitung seines Chefdirigenten Markus Stenz führt diese Tradition fort. Das Vorspiel der Komposition – in seiner Tiefe kaum weniger bedeutsam als jenes zu Edward Elgars 'The Dream of Gerontius' –, seinerzeit einer der Gründe, warum das Werk zum Druck angenommen wurde, erweist eine interessante, durchaus eigene Stimme (trotz gewisser Bruckner-Anklänge), mehr diatonisch als chromatisch, aber an Modulationen reich und von einer tiefen Inbrunst, die eine intime Kenntnis der Musik der Vergangenheit mitklingen ließ. Stenz lichtet den möglicherweise sonst etwas dunklen Klang auf, lässt die Musik wie auf Silbergrund strahlen.

Der Chorpart erweist fast unmittelbar die Nähe Gilses zur deutschen Tradition (die Komposition entstand in der Tat während seines Berliner Studiums bei Engelbert Humperdinck). Leider lässt der Groet Omroopkoor (Michael Gläser) und der National Frouwen Jeugdkoor (Wilma ten Walde) oder (wahrscheinlicher) die Aufnahmetechnik an Textverständlichkeit Wünsche offen, trotz der fast ausschließlich syllabischen Wortvertonung. Im Gegensatz zu der teilweise recht fortschrittlichen Instrumentierung erweist sich der Chorsatz als teilweise extrem rückwärtsgewandt (vor allem Mendelssohn kommt immer wieder in den Sinn), was dem Gesamtergebnis leider wenig zuträglich ist. Die vollstimmige Sopranistin Heidi Melton (wenig überzeugend als Eine Jungfrau) ist bestens bei Stimme und erfüllt Gilses Komposition mit verführerischem Wohlklang. der Tenor Roman Sadnik gibt einen überzeugenden, in der Höhe etwas forcierten Helden. Die Altistin Gerhild Romberger ist eine intensive, keineswegs unautoritative ‚schwache‘ Waise, der Bariton Vladmir Baykov unterstützt Sadnik als zweiter der ‚Zwei erfahrenen Sonderlinge‘ verlässlich, aber ohne einen besonderen Eindruck zu hinterlassen. In diesen Solopartien erweist sich Gilses Komposition als Schönbergs 'Gurreliedern' durchaus ebenbürtig und psychologisch wohl sogar überlegen – schade, dass der Chorsatz hier nicht ganz mithalten kann. Insgesamt aber haben wir hier eine musikalisch packende, emotionsreiche Komposition, die auf Tonträger zu bannen eine dankenswerte Leistung ist, noch dazu in einer beachtlichen Interpretation. Die niederländische Aufnahmetechnik ist tadellos, mit klarer Detailzeichnung und wie gesagt etwas misslungener Abbildung der Choranteile. Eine Entdeckung wahrlich wert.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Gilse, Jan van: Eine Lebensmesse. Oratorium nach Richard Dehmel

Label:
Anzahl Medien:
Spielzeit:
cpo
1
55:27
Medium:
EAN:
BestellNr.:

CD
761203792429
777 924-2


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van Gilse, Jan
 - Eine Lebensmesse. Oratorium nach Richard Dehmel - Vorspiel. Sehr langsam
 - Eine Lebensmesse. Oratorium nach Richard Dehmel - I. Teil. Wenn der Mensch. Allegro moderato e pesante
 - Eine Lebensmesse. Oratorium nach Richard Dehmel - II. Teil. Ich kenne keinen, der mich will leben sehn. Sehr langsam


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Dirigent(en):Stenz, Markus
Orchester/Ensemble:Radio Filharmonisch Orkest
Interpret(en):Melton, Heidi
Romberger, Gerhild
Sadnik, Roman
Baykov, Vladimir


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cpo

Wohl kaum ein zweites Label hat in letzter Zeit soviel internationale Aufmerksamkeit erregt wie cpo. Die Fachwelt rühmt einhellig eine überzeugende Repertoirekonzeption, die auf hohem künstlerischen Niveau verwirklicht wird und in den Booklets eine geradezu beispielhafte Dokumentation erfährt. Der Höhepunkt dieser allgemeinen Anerkennung war sicherlich die Verleihung des "Cannes Classical Award" für das beste Label (weltweit!) auf der MIDEM im Januar 1995 und gerade wurde cpo der niedersächsische Musikpreis 2003 in "Würdigung der schöpferischen Leistungen" zuerkannt.
Besonders stolz macht uns dabei, daß cpo - 1986 gegründet - in Rekordzeit in die Spitze vorgestoßen ist. Das Geheimnis dieses Erfolges ist einfach erklärt, wenn auch schwierig umzusetzen: cpo sucht niemals den Kampf mit den Branchenriesen, sondern füllt mit Geschick die Nischen, die von den Großen nicht besetzt werden, weil sie dort keine Geschäfte wittern. Und aus mancher Nische wurde nach einhelliger Ansicht der Fachwelt mittlerweile ein wahres Schmuckkästchen.
Am Anfang einer Repertoire-Entscheidung steht bei uns noch ganz altmodisch das Partituren-lesen, denn nicht alles, was noch unentdeckt ist, muß auch auf die Silberscheibe gebannt werden. Andererseits gibt es - von der Renaissance bis zur Moderne - noch sehr viele wahre musikalische Schätze zu heben, die oft näher liegen, als man meint. Unsere großen Werk-Editionen von Pfitzner, Korngold, Hindemith oder Pettersson sind nicht umsonst gerühmt worden. In diesem Sinne werden wir fortfahren.
Letztendlich ist unser künstlerisches Credo ganz einfach: Wir machen die CDs, die wir schon immer selbst haben wollten. Seien Sie herzlich zu dieser abenteuerlichen Entdeckungsfahrt eingeladen!


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