> > > Friedrich Gernsheim: Symphonies 1 & 3
Samstag, 23. September 2023

Friedrich Gernsheim - Symphonies 1 & 3

Jenseits von Brahms und Böhmen


Label/Verlag: cpo
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Friedrich Gernsheims Sinfonien Nr. 1 und 3 sind eine wertvolle Erweiterung des Orchesterrepertoires, auch wenn sie nicht die Speerspitze der zeitgenössischen Sinfonik darstellen.

Der musterhafte Einsatz des Labels cpo für deutsche Repertoireaußenseiter führt von Höhepunkt zu Höhepunkt; bedenkt man, dass es sich hier um ein wirtschaftliches Unternehmen handelt, ist der Wagemut der Firma in Zeiten problematischer Absätze und des Umbruches der Tonträgerindustrie umso lobenswerter. Der 1839 in Worms geborene Gernsheim, der sich zunächst als Pianist einen Namen machte, dann aber u.a. städtischer Musikdirektor in Saarbrücken, Dozent am Rotterdamer Konservatorium und zuletzt Vizepräsident der Berliner Akademie der Künste wurde (er starb 1916 ein Jahr nach Ernennung ebendort), schuf insgesamt vier Sinfonien, von denen die ersten drei ihre Uraufführung in Rotterdam erlebten.

Nach der Veröffentlichung mehrerer Kammermusikwerke folgt hier nun eine erste Sinfonien-CD, die erweist, dass Gernsheim ein äußerst tüchtiger Handwerker war, der seinen Beethoven und Schumann bestens kannte und hieraus Werke für den Publikumsgeschmack seiner Zeit schuf. Die 1875 erstmals gehörte, ambitionierte Erste Sinfonie g-Moll op. 32 bietet alle Qualitäten, die ein Komponist der Zeit besitzen konnte – einzig die Gernsheim über die Zeitgenossen heraushebende Qualität fehlt; wir haben herrliche Melodiebögen, ausgefeilte Instrumentation und immer wieder äußerst fähige (Schein-)Kontrapunktik. Der langsame Satz bietet tiefgründige deutsche Emotion, hier nicht nur à la Beethoven, sondern auch ein wenig à la Brahms. Im Scherzo hingegen ist Gernsheim weitgehend ganz er selbst, mit teilweise ausgesprochen vertrackter Rhythmik und Synkopik, die den Satz besonders attraktiv macht; in manchen Momente nimmt er gar Hugo Wolf vorweg. Im Trio plötzlich ist ein definitiver böhmischer Einfluss am Werke, mit harmonischen Wendungen, die schlussendlich aber leider nicht in gänzlich Eigenes münden. Das Finale greift Elemente des Kopfsatzes auf und führt das Werk zu einem überzeugenden Schluss.

Dreizehn Jahre nach der Ersten Sinfonie wurde die Dritte Sinfonie in c-Moll aus der Taufe gehoben. Sie ist deutlich kürzer als Gernsheims Erstling, bietet darüber hinaus auch außermusikalische Implikationen – jedem der vier Sätze wird eine Szene der biblischen Erzählung über Mirjam und das Volk Israel zugewiesen. Dennoch ist die Musik nicht als ‚jüdisch angehaucht‘ zu bezeichnen; Gernsheims Religionszugehörigkeit war für ihn nie besondere devotionale Inspiration zu schöpferischer Kreativität. Gernsheims Dritte Sinfonie ist musikalisch, strukturell wie harmonisch, noch weitaus sicherer gestaltet als sein erster Versuch auf diesem Feld, der Einfluss Brahms‘ ist hier zumeist deutlich zurückgedrängt. So positioniert sich Gernsheim durchaus einigermaßen selbstständig im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, zeigt gleichzeitig eine Art Kosmopolitismus, der hervorhebt, wo sich die Musikgeschichte auch hätte hinbewegen können.

Das Philharmonische Staatsorchester Mainz erfüllt die vergessenen Partituren mit Leben, wenn auch leider nicht immer mit höchster Präzision (besonders im Scherzo). Besonders den antiphonal einander gegenüber platzierten Violinen mangelt es nicht selten an Sorgfalt; immerhin musiziert der Mainzer Chefdirigent Hermann Bäumer mit einer Orchesteranordnung, die dem Werk angemessen ist (anders als manche von der eigentlichen interpretatorischen Qualität bessere Einspielung, die durch Verzicht auf eine solche Anordnung aber manchen Instrumentationseffekt verschenkt). Insgesamt aber bleibt die Einspielung ohne außerordentliche Überraschungen, somit nicht unbedingt essenziell für jeden Hörer.

Die Aufnahmequalität entspricht dem hohen cpo-Anspruch, der Booklettext mag für manchen Leser etwas zu musikwissenschaftlich sein, ist aber sehr informativ (ohne aber die genauen Uraufführungsdaten zu nennen). Insgesamt ein überzeugendes Plädoyer für einen Komponisten, den man nicht leichtfertig als Kleinmeister bezeichnen sollte.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Friedrich Gernsheim: Symphonies 1 & 3

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Spielzeit:
Aufnahmejahr:
cpo
1
20.04.2013
078:00
2012
Medium:
EAN:

CD
761203775828


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Gernsheim, Friedrich
 - Sinfonie Nr. 1 in g-Moll, op. 32 - Allegro moderato
 - Sinfonie Nr. 1 in g-Moll, op. 32 - Larghetto
 - Sinfonie Nr. 1 in g-Moll, op. 32 - Scherzo
 - Sinfonie Nr. 1 in g-Moll, op. 32 - Finale. Allegro moderato assai
 - Sinfonie Nr. 3 in c-Moll, op. 54 - Allegro ma non troppo
 - Sinfonie Nr. 3 in c-Moll, op. 54 - Molto adagio
 - Sinfonie Nr. 3 in c-Moll, op. 54 - Molto vivace
 - Sinfonie Nr. 3 in c-Moll, op. 54 - Allegro con brio


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Dirigent(en):Bäumer, Hermann
Orchester/Ensemble:Philharmonisches Orchester des Staatstheaters Mainz


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cpo

Wohl kaum ein zweites Label hat in letzter Zeit soviel internationale Aufmerksamkeit erregt wie cpo. Die Fachwelt rühmt einhellig eine überzeugende Repertoirekonzeption, die auf hohem künstlerischen Niveau verwirklicht wird und in den Booklets eine geradezu beispielhafte Dokumentation erfährt. Der Höhepunkt dieser allgemeinen Anerkennung war sicherlich die Verleihung des "Cannes Classical Award" für das beste Label (weltweit!) auf der MIDEM im Januar 1995 und gerade wurde cpo der niedersächsische Musikpreis 2003 in "Würdigung der schöpferischen Leistungen" zuerkannt.
Besonders stolz macht uns dabei, daß cpo - 1986 gegründet - in Rekordzeit in die Spitze vorgestoßen ist. Das Geheimnis dieses Erfolges ist einfach erklärt, wenn auch schwierig umzusetzen: cpo sucht niemals den Kampf mit den Branchenriesen, sondern füllt mit Geschick die Nischen, die von den Großen nicht besetzt werden, weil sie dort keine Geschäfte wittern. Und aus mancher Nische wurde nach einhelliger Ansicht der Fachwelt mittlerweile ein wahres Schmuckkästchen.
Am Anfang einer Repertoire-Entscheidung steht bei uns noch ganz altmodisch das Partituren-lesen, denn nicht alles, was noch unentdeckt ist, muß auch auf die Silberscheibe gebannt werden. Andererseits gibt es - von der Renaissance bis zur Moderne - noch sehr viele wahre musikalische Schätze zu heben, die oft näher liegen, als man meint. Unsere großen Werk-Editionen von Pfitzner, Korngold, Hindemith oder Pettersson sind nicht umsonst gerühmt worden. In diesem Sinne werden wir fortfahren.
Letztendlich ist unser künstlerisches Credo ganz einfach: Wir machen die CDs, die wir schon immer selbst haben wollten. Seien Sie herzlich zu dieser abenteuerlichen Entdeckungsfahrt eingeladen!


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