
Wolf, Hugo - Sämtliche Werke für Streichquartett
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Label/Verlag: VMS Musical Treasures
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Das Streichquartettschaffen von Hugo Wolf wird in dieser beeindruckenden, inspirierten Einspielung ausdrucksstark ausgelotet.
Lange war Hugo Wolf fast nur als Liedkomponist bekannt – zu Zeiten seines Todes war vieles ungedruckt geblieben, und es wurde Aufgabe der Nachwelt, den halbwegs Vergessenen gleichsam neu zu entdecken. Etwa waren die Orchesterfassungen diverser Lieder und der 'Italienischen Serenade' zu entdecken, aber auch die Partitur des 'Corregidor' wurde erstmals veröffentlicht, die Kantate 'Christnacht', die sechs geistlichen Eichendorff-Lieder, die Symphonische Dichtung 'Penthesilea' und das Streichquartett d-Moll. Die jüngste Forschung hat ergeben, dass eine wichtige Kraft in dieser Wolf-Entdeckung Max Reger war, der zwar bei den Editionen selten verantwortlich zeichnete, aber kein halbes Jahr nach Wolfs Tod seinen Verlegern gegenüber bemerkt hatte, dass die ‚Herren in Wien [vor allem der designierte Editionsleiter Josef Hellmesberger] das zu sehr ‚genial‘ [machen] d. h. in diesem Falle unordentlich!‘ Er fand noch viele offensichtliche Schreib- oder Übertragungsfehler; die Befassung mit ‚Hugo Wolf’s künstlerischem Nachlaß‘ (wie er einen eigenen Zeitschriftenartikel betitelte und der nicht nur Bericht über den Nachlass, sondern gleichzeitig eine Art Eigenpositionierung ist) inspirierte ihn auch zu eigenen Bearbeitungen Wolf‘scher Werke – etwa verfasste er die vierhändigen Klavierauszüge von 'Penthesilea' und 'Italienischer Serenade', erstellte eine Männerchorfassung der Eichendorff-Chöre und orchestrierte vier Lieder. Vor allem aber inspirierte ihn Wolfs Streichquartett d-Moll zu Regers eigenem großen Streichquartett d-Moll op. 74 – eine Gegenüberstellung der beiden Werke ist für beide Seiten erhellend.
Eine Gesamtschau der Streichquartettwerke von Hugo Wolf ist nicht neu. Die Gesamtdauer von rund einer Stunde lässt sich höchst geeignet für eine Schallplattenproduktion erscheinen. Während aber das Fine Arts Quartet noch das in der neuen (durchaus nicht unproblematischen) Wolf-Gesamtausgabe ausspart, hat es sich spätestens seit Veröffentlichung des Wolf-Werkverzeichnisses etabliert, auch das 1886 entstandene Intermezzo Es-Dur mit vorzulegen. Die hier zu besprechende CD wurde im Mai 2011 (beginnend faktisch an Regers Todestag) in der Oberpfalz eingespielt, in jener Region also, aus der Reger stammte. Zufall?
Leider erhellt uns der Booklettext in dieser Hinsicht überhaupt nicht. Die eigentliche Einführung (von Florian Berner) ist viel zu kurz und wird ergänzt durch essayistische Einlassungen einer österreichischen Journalistin, die sich nicht zu einer wirklichen Einführung in Wolf und seine Musik fügen, ihre Genese und ihre Rezeption. Legen wir also das Booklet beiseite und befassen wir uns mit der Musik. Die 'Italienische Serenade' G-Dur, 1887 entstanden, ist ein kurzes charmantes Werk, das uns Wolf auch in einer Orchesterfassung hinterlassen hat. Serenadenhaft ist hier allenthalben der Titel; zwar gibt es Gitarrenimitation, doch sind wir hier eindeutig im Österreich des späten 19. Jahrhunderts. Das Stück wird hier wunderbar spritzig, mit einer gehörigen Portion Wiener Charme präsentiert. Das Quartetto Prometeo mag wärmer, weniger schlank im Ton sein, doch haben wir hier wahrscheinlich eine Wiedergabe, die dem Stück eher ansteht. Nicht anders steht dies bei dem – hier mit vielen raffinierten Untertönen dargebotenen – Intermezzo Es-Dur: Das klingt nicht immer schön (das Ensemble nutzt die feinsten Unterschiede zwischen Kreuz- und B-Vorzeichen, die nur bei reinen Streichensembles voll ausgekostet werden können), dafür aber ungeheuer charakterstark. Die perfekte, den Aufnahmeraum bestens mit einbeziehende Aufnahmetechnik lassen selbst dieses vom Titel her so belanglose ‚Zwischenspiel‘ zu einem äußerst substanzreichen Beitrag werden (im direkten Vergleich klingt das Quartetto Prometeo regelrecht langweilig).
Das Streichquartett d-Moll mit dem Untertitel 'Entbehren sollst du, sollst entbehren' entstand 1878–1884. Wolf rang sichtlich mit der Meisterdisziplin der Instrumentalmusik. Das Ergebnis ist ein Gigant von einer knappen Dreiviertelstunde Länge. Merkwürdigerweise rührt mich hier der Zugriff des Hugo Wolf Quartetts etwas weniger als bei den beiden anderen Kompositionen. Schon das eröffnende 'Grave' transportiert nicht ganz die emotionale Tiefe, etwa beim Auryn Quartett zu hören ist. Vielleicht ist es hier der schlanke Ton, der primär auf die einzelnen Linien abzielt, der das ungemein dichte Werk mir hier in ganz neuem Licht präsentiert. Wolf zeigt sich hier als zentrales Bindeglied zwischen Beethoven und der Musik des 20. Jahrhunderts (zu der ich in diesem Zusammenhang auch Reger zählen möchte). Dafür strahlt das Scherzo wiederum vor Frische, der langsame Satz enthält wunderbare lyrische Linien, die an 'Parsifal' gemahnen; das vielgestaltige Finale wiederum enthält viele jener Raffinessen, die auch im Intermezzo und in der 'Italienischen Serenade' zu hören sind. Insgesamt, wenn man sich auf den interpretatorischen Zugang einlässt, haben wir hier eine beeindruckende, eine inspirierende CD, voller bester Kammermusikkunst.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Wolf, Hugo: Sämtliche Werke für Streichquartett |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
VMS Musical Treasures 1 15.02.2013 |
Medium:
EAN: |
CD
9120012232327 |
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VMS Musical Treasures Gegründet: 2002 von Dieter Heuler und Joe Morscher Erste Veröffentlichungen: März 2003 Vergessene/verborgene/verfemte/verdrängte musikalische Schätze quer durch alle Musikepochen zu entdecken, ist das Hauptziel des Labels VMS Musical Treasures. Dabei kann Produzent Dieter Heuler auf seine fast dreißigjährige Erfahrung in musikalischer "Archäologie" zurückgreifen, die auch seine kreative Arbeit für das Label "Schwann" geprägt hatte. Der weltweite Vertrieb liegt in den Händen von Joe Morscher (Zappel Music), der seit zwei Jahrzehnten dieses Metier erfolgreich betreibt und u. a. auch für die weltweite Distribution des bekannten japanischen Labels "Camerata Tokyo" verantwortlich zeichnet. VMS versteht sich im weitesten Sinne als "inoffizielles" Nachfolgelabel von Schwann. Beide Gründer haben lange Jahre für und mit dem Label Schwann gearbeitet und wollen - nachdem Schwann von Universal übernommen, aber Neuproduktionen großteils eingestellt wurden - die lange Tradition des Labels fortsetzen und Vergessene Musikalische Schätze (VMS) wieder entdecken. Etliche Künstler, die vormals auf Schwann veröffentlicht hatten, haben bei VMS ein neues Zuhause gefunden.
Künstlerauswahl: Aktuell umfasst der Katalog von VMS Musical Treasures gesamt 102 Titel. Mehr Info... |
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