> > > Tschaikowski, Peter Ilyich: Sinfonie Nr. 6 op. 74 - Pathétique
Montag, 25. September 2023

Tschaikowski, Peter Ilyich - Sinfonie Nr. 6 op. 74 - Pathétique

Kontrolle und Emotion


Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Thomas Dausgaards Einspielung der Sechsten Sinfonie von Peter Tschaikowsky hat ihre Meriten, doch kann sie rundum doch nicht gänzlich überzeugen.

Wie leicht doch das Wort bei der Musik in die Irre führen kann! Die ‚programmatischen Hinweise‘ von einigen von Richard Strauss' Tondichtungen haben den Gedanken befördert, Strauss sei ein ‚illustrativer‘ Komponist. Die 'Alpensinfonie' wird von Hörern, Plattenindustrie und nicht selten auch den Interpreten nach den ‚erläuternden Worten‘ in der Partitur strukturiert und nicht nach der eigentlichen formalen Struktur, und selbst Titel von Tondichtungen wie etwa Liszts 'Les Préludes' werden manchmal missverstanden. Hat man nur ein Wort, also ‚romantische Sinfonie‘ oder ‚Pathétique‘, womöglich gar einen posthumen Hilfstitel wie 'Vier letzte Lieder', so leiten manchmal diese Titelworte die Assoziationen – auch in die Irre, weil gegen die offenkundigen Partiturintentionen. Bei der ‚Pathétique‘, der letzten Sinfonie Peter Tschaikowskys, sollte der Beititel den Charakter des Werks beschreiben, einer Komposition großer Emotionen. Doch gibt es natürlich solche und solche großen Emotionen, und was wir heute als ‚pathetisch‘ im Deutschen von ‚Pathos‘ ableiten und entsprechend pompös dargeboten sehen wollen, bietet anderswo ganz andere Implikationen. Im englischsprachigen Raum etwa wird ‚pathetic‘ nicht nur als ‚zutiefst berührend‘ und ‚midleiderregend‘ verstanden, sondern, im negativen Sinne, auch als emotional übersteigert und damit ‚erbärmlich‘ und ‚jämmerlich‘. Was Tschaikowsky im Sinn hatte, sagt seine Partitur klar – eine leidenschaftliche, teilweise extrem leidenschaftliche Komposition, die besonders im Finale den Zuhörer mit sich reißen will.

Ein genauerer Blick in die Partitur zeigt aber noch mehr. So sehr die Metronomangaben immer nur Richtwerte sein können, so sehr fällt doch auf, dass Interpreten dazu tendieren, insbesondere die Ecksätze heute breiter, teilweise viel breiter zu nehmen als es die Metronomangaben selbst bei äußerster Überdehnung zulassen. Bei rein rechnerischer Ermittlung der Sätze der Sinfonie (mit entsprechenden Puffern) wäre von einer Dauer von 14:30 + 7:30 + 9:00 + 7:30 Minuten auszugehen, einer Gesamtdauer des Werks also von nicht mehr als 39 Minuten. Dimitri Kitajenko hat jüngst eine Einspielung vorgelegt, die mehr als 51 Minuten dauert, Bernstein in seiner DG-Einspielung von 1987 mehr als 58 Minuten (zum Vergleich: Furtwängler brauchte 1938 knappe 48 Minuten). Wie anders sieht es da bei Maazel (Decca), Monteux (RCA) oder Mravinsky (z. B. DG) aus – und auch Thomas Dausgaard liegt in dieser Neueinspielung im Mittelfeld bei um die 43 Minuten. Auch ihm gelingt es zwar nicht, beim Kopfsatz den 16-Minuten-Rekord Guido Cantellis (1952 für EMI) zu knacken, doch mit knapp 17 Minuten liegt er im wahrsten Sinne bestens in der Zeit. Bei den beiden Binnensätzen liegen viele Interpreten vom Tempo her eng beieinander. Dausgaard nutzt ganz ähnliche Tempi wie Zubin Mehta (Decca), Alexander Gibson (Chandos), Mikhail Pletnev (DG und Pentatone), Kurt Masur (Teldec) und Valery Gergiev (Philips). Beim Finale finden wir wieder ein weites Feld an Tempodeutungen. Zehn Minuten sind hier die Regel, und nur eine Einspielung ist mir bekannt, die Dausgaards beachtliche 9:16 Minuten unterbietet – abermals Guido Cantelli 1952 für EMI mit 9:01.

Soviel zur reinen Statistik, die nahezu gleichgültig werden kann, wenn man sich die Interpretation für sich anhört. Dausgaard ist bekannt für seine durchhörbaren Deutungen, für seine partiturtreue Lesart. Der frische Zugang zu der Komposition verortet das Werk ganz anderswo als dies viele Einspielungen der 1970er- und 1980er-Jahren taten; hier rückt die Sinfonie in die Richtung Brahms‘ und Dvoráks, besitzt eine (auch orchestrale) Schlankheit, an die man sich erst gewöhnen muss. Da ist kein pompöses Pathos zu hören, selbst die Emotion ist zumeist quasi kontrolliert, selbst im 'Allegro vivo' des Kopfsatzes, einfach weil die Phrasierung so sorgfältig ist, da wird nichts aus dem Bauch einfach heruntermusiziert, da spürt man, wie viel Finesse in dem Werk stecken kann. Allerdings ist mir das ‚Largamente‘ gegen Ende des Kopfsatzes zu sehr ausmusiziert, da hätte sich Dausgaard noch mehr auf seinen Instinkt und weniger auf die Aufführungsanweisung (die keine Tempoanweisung zu sein braucht) verlassen können. Eben dies tut er im Finale, das erfrischend flott, fast schumannesk beginnt. Leider kommt der antiphonale Effekt der Themenvorstellung hier nicht recht zur Geltung. Dafür aber: Welche Raffinesse in der Dynamik, welch ein Farbenreichtum, welche Klarheit der Linie, welche Eleganz.

Weit mehr als ein Bonustrack ist die wohl noch öfter als die Sechste Sinfonie gespielte Phantasieouvertüre 'Romeo und Julia'. Auch hier sorgsamste Farbschattierung, nahezu neoklassizistisch klare Linienführung, reduziertes Streichervibrato, wohltuend flüssige Tempi; allerdings ist das Kontrollierte und das Emotionale auch hier nicht unauflöslich verwoben, sondern stehen (noch?) eher nebeneinander. Was schade ist, denn allein die Klangqualität zwingt schon zur Empfehlung der Aufnahme. Viele herrliche Momente bietet die SACD, doch leider kein (mich) musikalisch rundum befriedigendes Gesamterlebnis. Der zur Emotionalisierung neigende Booklettext hält nicht ganz das Niveau, das wir von BIS gewöhnt sind.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Tschaikowski, Peter Ilyich: Sinfonie Nr. 6 op. 74 - Pathétique

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
BIS Records
1
29.08.2012
Medium:
EAN:

SACD
7318599919591


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BIS Records

Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees.


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