
Berg, Alban - Lulu
Verlorene Erotik
Label/Verlag: EuroArts
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Euroarts legt den Mitschnitt der Salzburger Inszenierung von Alban Bergs 'Lulu' auf DVD vor.
Es hat einige Anlaufzeit gebraucht, bis Alban Bergs 'Lulu' in der Tonträgerindustrie Fuß gefasst hat. Nach den beiden Studioaufnahmen unter Leopold Ludwig in Hamburg (mit Anneliese Rothenberger) und Karl Böhm in Berlin (mit der kürzlich verstorbenen Evelyn Lear in der Titelrolle) wurde es zunächst eher still um das Werk (mit der Ausnahme der Wien Studioproduktion unter Christoph von Dohnanyi mit seiner damaligen Frau Anja Silja). Erst die Vollendung der Komposition durch Friedrich Cerha und ihre Uraufführung in Paris 1979 unter der Leitung Pierre Boulez‘ (mit Teresa Stratas) leitete einen neuen Schub an Produktionen ein – doch vor allem wurden seither Live-Mitschnitte veröffentlicht: auf CD Lorin Maazel in Wien 1983 mit Julia Migenes, Jeffrey Tate in Paris 1991 mit Patricia Wise, Ulf Schirmer in Kopenhagen 1996 mit Constance Hauman, Stefan Anton Reck Palermo 2001 mit Anat Efraty, auf DVD James Levine in New York 1980 mit Julia Migenes, Franz Welser-Möst Zürich 2002 mit Laura Aikin, Andrew Davis in Glyndebourne 2003 mit Christine Schäfer, Antonio Pappano in London 2009 mit Agneta Eichenholz sowie Michael Boder in Barcelona 2010 mit Patricia Petibon.
Patricia Petibon hat die Titelrolle in Alban Bergs Schwanengesang auch bei den Salzburger Festspielen 2010 übernommen, in der zuverlässigen Bildregie von Brian Large (der allerdings auf Großaufnahmen der nicht toten ‚Toten‘ hätte verzichten sollen). Regie für die Produktion hat die Rumänin Vera Nemirova übernommen, eine ehemalige Schülerin u. a. von Ruth Berghaus und Peter Konwitschny. Doch steckt eine echte Personenregie eher noch in den Anfängen; Gestik wie Mimik sind immer wieder bemüht, aber nicht wirklich durchdacht, besonders wenn gegen das Libretto inszeniert wird (wie soll man eine Tür einschlagen, die es nicht gibt? und warum gibt es auf der Bühne Lilien, wenn von Orchideen gesungen wird?). Und welcher Regisseur toleriert es, dass im wesentlichen Moment der Verführung der Maler auf den Dirigenten schaut und nicht auf das Objekt seiner Begierde? Ist es nötig, dass uns im zweiten Akt eine ganze Reihe der (umgekommenen) Verflossenen Lulus leibhaftig erscheinen, haben wir dazu nicht selbst genug Hirn? (Immerhin ist es ein schöner optischer Effekt.) Auch die ‚Modernisierung‘ der Handlung bringt keinerlei zusätzliche Dimension, sondern im Grunde nur Irritationen. Die Fin-de-siècle-Dekadenz, die Libretto und Partitur vermitteln wollen, verpufft in dieser Produktion im Nichts, so dass auch die bestens aufgelegten Wiener Philharmoniker unter Marc Albrecht nicht wirklich zur Geltung kommen. Besonders albern ist dann der Beginn des dritten Aktes. Der Akt beginnt statt in einer Spielhölle in Paris im Zuschauerraum, das Publikum wird wie in drittklassigen Musicals zur Mitwirkung genötigt; die letzte Szene (die im Londoner East End spielen soll) hat Daniel Richter ohne ersichtlichen Grund in einem Winterwald angesiedelt.
Patricia Petibon ist für die Lulu bestens bei Stimme, doch hat sie Probleme mit der deutschen Sprache. Doch nicht nur dies – leider auch mit der Rolle. So viel Augenrollen und ‚irre‘ Mimik braucht es für die Partie beim besten Willen nicht, auch wenn Nemirova von Anfang in auch als Opfer sehen wollen würde. In unterschiedlichem Maße verunsichert Petibon sogar ihre Partner. Der stimmlich herrliche Pavol Breslik als Maler hat in ihrer Gegenwart ebenfalls stärkere Ausspracheprobleme, steigert sich aber darstellerisch in der Szene mit Dr. Schön deutlich; als ‚Neger‘ (wie es bei Berg heißt) ist Breslik viel selbstsicherer, auch wenn ihm Nemikova den Totschläger nimmt. Thomas Piffka als stutzerhafter, in Petibons Abwesenheit sängerisch wie darstellerisch aufblühender Alwa Schön mit feinem Timbre verliert in ihrer Gegenwart ebenfalls gelegentlich das Gespür für Timing und Gestik. Es scheint, als ob Nemirova überfordert sei, sobald Erotik ins Spiel kommt: Die Tenöre verlieren ihre natürliche Gestik, Petibon überagiert, ob neben Beslik oder neben Michael Volle als grobstimmigem, aber charaktergewaltigem Dr. Schön, der (quasi als ‚Wiedergänger‘) als Jack (the Ripper) Lulus Schicksal beschließt. Auch Nemirova und Kostümdesigner Klaus Noack sind der Sängerin da keine Hilfe, und auch Richters bizarre Ausstattung (darunter eine schwarze Pyramide mit Ausguck- und Versteckmöglichkeiten) dient der dramatischen Handlung nicht unmittelbar. Ein Gespür für Körperlichkeit wird in diesen Bereichen nicht vermittelt. Besser agiert Petibon, wenn es um das Ausleben von Macht oder Verzweiflung geht.
Von weitaus stetiger Leistung ist Franz Grundheber als Schigolch (für fast 73 Jahre noch recht gut bei Stimme), neben ihm scheint sich Petibon auch deutlich sicherer in ihrer Rolle zu fühlen. Ein darstellerisch echtes Erlebnis ist auch Heinz Zednik als Prinz und als Kammerdiener. Der Siebzigjährige ist kaum mehr bei Stimme, hat aber ebenso viel szenische Präsenz wie Grundheber. Eine Entdeckung ist Tanja Ariane Baumgartner als Gräfin Geschwitz, gesanglich herrlich und darstellerisch äußerst bewegend, überzeugend auch die Mezzosopranistin Cora Burggraf als Gymnasiast und Groom (auch wenn musikalisch nicht ganz so stark wie Baumgartner). Thomas Johannes Mayer differenziert viel zu wenig zwischen seinen Rollen als Tierbändiger und Athlet, geriert sich letztendlich als jüngere Kopie Schigolchs, jedoch nicht ganz mit Grundhebers Ausstrahlungskraft. Der von den kleineren Rollen enttäuschendste Sänger ist Andreas Conrad als Marquis.
Das Booklet enthält einen intelligenten Essay von David Patmore, aber leider weder eine komplette Besetzungsliste noch Informationen zur Inszenierung an sich; entsprechendes Bonusmaterial fehlt ebenfalls. Solange Regisseure aber nicht ihre Intentionen dem Publikum auf der Bühne zu vermitteln imstande sind, muss es Aufgabe der Dokumentation sein, diesem Manko abzuhelfen. Ansonsten hat die Regie ihre Aufgabe nicht erfüllt. – Zum Schluss ein Wort zur FSK-Freigabe: Eine Altersfreigabe dieser Oper ab sechs Jahren ist schlichtweg eine Unverschämtheit.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: Regie: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Berg, Alban: Lulu |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
EuroArts 2 25.06.2012 |
Medium:
EAN: |
DVD
880242725684 |
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EuroArts EuroArts Music International ist im Bereich audio-visueller Klassikproduktionen eine der weltweit führenden Produktions- und Distributionsfirmen. Das 1979 gegründete Unternehmen produziert jährlich 10-15 hochwertige Klassik-Programme darunter Konzertaufzeichnungen in aller Welt sowie aufwändige Dokumentationen. Renommierte, preisgekrönte Programme und Events haben EuroArts Music zu einem exzellenten internationalen Ruf verholfen. Eine intensive und langjährige Partnerschaft verbindet EuroArts Music mit führenden Klangkörpern wie den Berliner Philharmonikern, dem Mariinsky Theater Orchester, dem Lucerne Festival Orchestra, der Staatskapelle Berlin, dem Gewandhausorchester Leipzig und vielen anderen. Die alljährlichen Aufzeichnungen des EUROPAKONZERTs, des Waldbühnen- und Silvester-Konzerts der Berliner Philharmoniker sind erfolgreiche und weltweit etablierte Musikprojekte von EuroArts Music. Im August 2005 produzierte und übertrug EuroArts Music live das weltweit beachtete Ramallah-Konzert des West-Eastern Divan Orchestra unter Daniel Barenboim. Im Januar 2006 produzierte EuroArts Music die erste Klassik-Live-Übertragung von Peking nach Europa (u.a. mit Lang Lang). Die weltweit einmaligen Musik-TV-Formate 24hoursBach und 24hoursMozart wurden zu zwei international erfolgreichen Musikevents dieses Unternehmens. In 2012 wurde ein kompletter Prokofiev-Zyklus mit sämtlichen Sinfonien und Klavierkonzerten aufgezeichnet. Seit vielen Jahren verbindet EuroArts Music eine enge Zusammenarbeit mit herausragenden Künstlern wie Daniel Barenboim, Sir Simon Rattle, Valery Gergiev, Claudio Abbado, Martha Argerich, Yuja Wang und András Schiff sowie renommierten Regisseuren Bruno Monsaingeon, Frank Scheffer und Peter Rosen. Das Ergebnis sind Gesamtaufnahmen wie The Beethoven Symphonies (Abbado/Berliner Philharmoniker) und preisgekrönte Dokumentationen wie Claudio Abbado Hearing the Silence oder Multiple Identities Encounters with Daniel Barenboim. 2006 wurde die EuroArts Music Produktion Knowledge is the Beginning mit dem International Emmy Award (Arts Programming) ausgezeichnet. Der Dokumentarfilm wurde 2007 mit weiteren Preisen geehrt, darunter der FIPA D'OR Grand Prize 2007 (Kategorie Performing Arts) sowie als Best Arts Documentary bei dem renommierten 2007 Banff World Television Festival. Innovation und Qualität bildeten von Anfang an die Grundpfeiler der Firma. Zahlreiche internationale Auszeichnungen bestätigen dies, darunter: Oscar® für die Koproduktion von Journey of Hope Grammy Award für Kurt Weills: Rise and Fall of the City of Mahagonny Emmy Award und ECHO Klassik für Knowledge is the Beginning 2 weitere ECHOs für A Surprise in Texas (ECHO Klassik) und Django Reinhardt- Three-fingered Lighnting (ECHO Jazz) Peabody Award für Blue Note A Story of Modern Jazz National Education Award (USA) für Sir Peter Ustinov: Celebrating Haydn
Sowie folgende Nominierungen:
Emmy Award für Robbie Robertson Rocky und Grammy Award für Blue Note A Story of Modern Jazz
Der Katalog von EuroArts Music umfasst rund 1.800 Musikprogramme, darunter gehören neben EuroArts Eigenproduktionen auch Programme von zahlreichen unabhängigen Produktionsfirmen. Viele eigene Produktionen werden weltweit auf dem eigenen Label EuroArts als DVD und Blu-ray, sowie als digitales Produkt vermarktet. Seit 2016 werden die physischen Produkte durch Warner Music vertrieben. Mehr Info... |
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