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Sonntag, 1. Oktober 2023

Beethoven, Ludwig van - Missa solemnis op. 123

Heimgekehrt


Label/Verlag: ICA Classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel


ICA Classics veröffentlicht mit diesem WDR-Mitschnitt aus Köln eine der bewegendsten Einspielungen von Beethovens 'Missa solemnis'.

Mit Rundfunkarchiven ist das so eine Sache. Randvoll mit Schätzen, ist heute längst nicht mehr genügend Sendeplatz, um all die herrlichen historischen Aufnahmen zu senden. So sollte es für alle Rundfunksender geradezu eine Verpflichtung sein, die Bestände archivalisch oder kommerziell zugänglich zu machen, entweder als kostenlose Streams zum Listening-on-demand oder eben in Kooperation mit Schallplattenfirmen; letztere Option ermöglicht überdies anständige Dokumentation, die ja leider bei den meisten Downloadportalen extreme Mangelware ist.

So haben wir hier aus dem Kölner Funkhaus einen Kölner Dirigenten, der im ‚Dritten Reich‘ als Jude Deutschland verlassen musste. Zusammen mit Bronislaw Huberman gründete er 1936 das Palestine Orchestra, das heutige Israel Philharmonic. 1938 holte Arturo Toscanini Wilhelm Steinberg (1899–1978) nach New York als stellvertretenden Dirigent des NBC Symphony Orchestra. Doch sein Hauptwirkungsfeld wurde das Pittsburgh Symphony Orchestra, das er von 1952 bis 1976 leitete. Natürlich hatte er seinen Vornamen schon lange amerikanisiert, doch war seine Verbundenheit zur deutschen Orchestertradition stets deutlich spürbar (er war in Köln Schüler von Hermann Abendroth und Assistent von Otto Klemperer gewesen). Steinbergs diskografisches Vermächtnis schien bis dato eher klein, vor allem weil die amerikanischen Aufnahmen nicht in Europa lieferbar waren und weil die europäischen Tonträgerfirmen Steinberg weitgehend ignorierten. Immerhin brachten EMI erst gegen Ende 2011 eine 20-CD-Box in der ‚Icon‘-Reihe auf den Markt.

Im Februar 2011 wurde aus dem WDR-Archiv Mahlers Zweite (von 1965) bei ICA Classics vorgelegt – nun also, quasi als Gegenstück, Beethovens 'Missa solemnis'. Die Aufführung fand am 15. Juni 1973 statt. Steinbergs Gesundheit war zu diesem Zeitpunkt bereits angegriffen, doch gerät seine Interpretation spannungsvoll und klangschön. Anders als manch einer seiner Zeitgenossen (etwa Karl Böhm, der 1974 eine Neueinspielung der Messe im Wiener Musikverein aufnahm) gehört Steinberg nicht der Zunft der ‚Verschlepper‘ an; mit etwas über 74 Minuten passt seine 'Missa solemnis' auf eine CD. Nicht dass Steinberg irgendwie übereilt wirken würde – die Unarten der Furtwängler-Nachfolge sind einfach nicht sein Ding. Seine Lesart ist nobel, aber bewegt.

Seine Gesangssolisten standen zu jener Zeit auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten. Heather Harper nahm in dieser Dekade unter Haitink Mahlers 'Klagendes Lied' auf, unter Barenboim die 'Figaro'-Gräfin und Donna Elvira, unter Colin Davis Miss Jessel in 'The Turn of the Screw' und Ellen Orford in 'Peter Grimes', um nur einige zu nennen. Julia Hamari war wesentlich an Helmuth Rillings Bachkantaten-Gesamteinspielung beteiligt, konnte aber auch unter Solti die Magdalene in den 'Meistersingern', unter Kubelík Fatime in 'Oberon' und für EMI den Mezzosopranpart in Schumanns 'Der Rose Pilgerfahrt' einspielen. Peter Meven († 2003) war an der Düsseldorfer Oper der Bass vom Dienst, doch wurde er von der Tonträgerindustrie immerhin als Kaspar in Kubelíks 'Freischütz', als Rocco (unter Masur) und als Riedinger in 'Mathis der Maler' gebucht. Am schlechtesten dokumentiert ist der 1933 geborene schwedische Tenor Sven Olof Eliasson, der auf Tonträger gerade einmal in Harnoncourts erstem 'Ritorno d’Ulisse in patria' und ein paar Aufnahmen für die schwedische EMI dokumentiert ist. Für alle Solisten ist die vorliegende Einspielung also eine willkommene diskografische Ergänzung. Hamari und Harper harmonieren bestens, ihre gut tragenden Stimmen mit leicht metallischem Kern, die in anderem Repertoire kühl oder spröde klingen können, verschmelzen bestens mit Eliasson, der nur in 'Et incarnatus est' etwas zu gepresst klingt. Einzig Meven scheint zu Beginn einen Hauch schwächer als die drei anderen Solisten. Dies war aber offenbar eine Frage der Mikrofonierung (spätestens in 'Qui tollis' ist die unkorrekte Aussteuerung korrigiert). Insgesamt ein äußerst homogenes Ensemble, das weitaus mehr bietet als Schöngesang, das herrlicher Steigerungen und wunderbar verhaltener Momente fähig ist.

Der Kölner Rundfunkchor erlebte unter Chordirektor Herbert Schernus eine legendäre Ära, und so überrascht es nicht, dass der Chor nicht brüllt, sauber singt (auch in den extremen Höhen) und textverständlich ist; die Piani sind nicht so extrem wie in der heutigen Digitalära – auch dies vielleicht eine Frage der damaligen Aufnahmetechnik. Gerade in der damaligen Zeit war dies keineswegs die Normalität, und an manchen Stellen ist zu spüren, wie hart der Probenaufwand gewesen sein muss. Die feine dynamische und agogische Abstimmung war ein Markenzeichen Schernus‘. Rundfunkchorgesang at its best (man ‚teste‘ den Chor nur beim heiklen 'Quoniam'), mit winzigen Abstrichen etwa beim 'Pleni sunt coeli et terra' des Sanctus.

Das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester erweist sich als über alle Tugenden eines deutschen Rundfunksinfonieorchesters verfügend. Es gelingt Steinberg, Beethovens Partitur sorgsam in die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts einzugliedern. Die ‚Vorechos‘ auf Schumann sind ebenso zu hören wie alles das, was Beethovens summum opus ausmacht. Die Herzenswärme, die alle Beteiligten, nicht zuletzt Steinberg als Spiritus rector, an den Tag legen, ermöglicht eine rundum bewegende, stimmige Interpretation, der man an manchen Einsätzen ein wenig den nur einen Produktionstag anmerkt. Doch andererseits – was für eine Innenspannung, was für eine Hingabe der Musiker. Diese 'Missa solemnis' ist eine der überzeugendsten.

Leider erfahren wir nicht, wer dem Aufnahmeteam 1973 angehörte, wohl aber viel über das Remastering, das von erfreulicher Präsenz, wenn auch vielleicht nicht ganz jener Prägnanz ist wie bei zeitgleichen Schallplattenproduktionen. Der Bookletbeitrag wurde weit, weit weg von Köln geschrieben, durch einen amerikanischen Journalisten, der auf die Kölner Gegebenheiten mit keinem Wort eingeht und damit die Chance einer anständigen Dokumentation im Booklet verschenkt.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Beethoven, Ludwig van: Missa solemnis op. 123

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
ICA Classics
1
13.02.2012
Medium:
EAN:

CD
5060244550544


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ICA Classics

Mit ICA (International Classical Artists) entstand im Jahr 2011 das erste DVD- und CD-Label einer Künstleragentur. ICA bietet in seinem Katalog unter dem Label Legacy sowohl wertvolles Archivmaterial, das aus Quellen der BBC, des WDR Köln oder des Boston Symphony Orchestra stammt, als auch die in renommierten Konzertsälen entstandenen Aufnahmen der hauseigenen Künstler, die unter dem Label Live präsentiert werden. Die meisten der ICA-Titel erscheinen erstmals auf DVD oder CD. Alle historischen Aufnahmen sind nach dem neuesten Stand der Technik liebevoll und fachmännisch restauriert worden.

Für diese einmaligen Aufnahmen wurde das Label ICA bereits mit bedeutenden Preisen - wie dem Toblacher Komponierhäuschen, dem Internationalen Mahler Preis und mehreren Diapasons d'Or geehrt. Zu den besonders erfolgreichen Titeln gehören die 1986 entstandene Aufnahme von Mahlers Dritter mit Klaus Tennstedt und dem London Philharmonic Orchestra sowie die DVD mit dem Royal Philharmonic Orchestra und dem BBC Symphony Orchestra unter Rudolf Kempe mit Musik von Dvorak und Richard Strauss.

Das Team von ICA, dem auch die in der Musikindustrie erfahrenen Experten Stephen Wright und John Pattrick angehören, war in den vergangen Jahren am Erfolg von zahlreichen CD- und DVD-Produktionen beteiligt. Dazu gehören beispielsweise The Art of Conducting, The Art of Piano, The Art of Violin sowie die DVD-Serie Classic Archive. Darüber hinaus entstanden in Koproduktion Dokumentationen über Richter, Fricsay, Mravinsky und Toscanini. Das bereits 1998 gegründete BBC Legends Archiv-Label umfasst mittlerweile mehr als 250 CDs. Für EMI Classics entstand die CD-Serie Great Conductors of the 20th Century.


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