> > > Widmann, Jörg: fleurs du mal
Freitag, 31. März 2023

Widmann, Jörg - fleurs du mal

Glissant sur le gouffres amers


Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Der Pianist Fabio Romano kombiniert Werke von Schumann und Widmann in packender Manier, inhaltlich wie interpretatorisch.

Die Werke des Komponisten Jörg Widmann zeichnen sich durch einen produktiven, in verschiedenster Weise erneuernden und grundsätzlich friedlichen Zugriff auf die Vergangenheit aus – und diese künstlerische Klugheit lässt sich nicht durch einen Verweis auf die Versiertheit des Klarinettisten Jörg Widmann erledigen. Ein ebenso wenig eindimensionales, vielmehr ebenso fesselnd vielpoliges Portrait einer Verzahnung hat nun der Pianist Fabio Romano vorgelegt, indem er Jörg Widmann mit Robert Schumann kombiniert. Abwechselnd stehen hier die hoffmannianisch betitelten 'Nachtstücke' op.23 (1839) und die 'Gesänge der Frühe' op.133 (1853) einerseits und Widmanns 'Toccata', die 2002 für den ARD-Wettbewerb komponiert wurde, sowie 'Fleurs du mal. Klaviersonate nach Baudelaire' andererseits. Das letztgenannte Werk ist zwar bereits 1996/97 entstanden, liegt aber nun auf dieser CD als Weltersteinspielung vor.

Diese Kombinationen liegen durch den Bezug zu Zukunft und Vergangenheit beider Komponisten (das Coverdesign bringt die Spinnwebe ins Spiel, die europäische Bildtradition fasst diese Umgangsform im Emblem der Biene zusammen) ebenso nahe wie die literarischen Querstreben. Baudelaire, wie Hoffmann eine undeutliche, nächtliche Schwellenfigur, ist in diesem Frühwerk Widmanns zwar von seiner aus der Rückschau progressiv erkannten Seite gegenwärtig, im Groben, Düsteren – aber es herrscht auch hier genau die produktive Spannung zur Vergangenheit, die Schärfe des Bildvorrats und der beherrschten Form. In der Sonate entdeckt man weniger den flanierenden Dichter, der einen Hummer in den Passagen spazieren führte und zu prassen wusste, bis man ihn entmündigte – hier ist, purer, der Architekt der vergessensgenießerischen Künstlichkeit am Werk, die Lust an Klang- und Sprachfarbe, an so intimer wie riesiger Geste. Man denkt an den 'Rêve parisien': ‚C’était un palais infini, / Plein de bassins et des cascades / Tombant dans l’or mat ou bruni; // Et des cataractes pesantes, / Comme des rideaux de cristal, / Se suspendaient, éblouissantes, / A des murailles de métal.‘ Nur im zweiten Satz, der zarte und hypnotische Klänge beschwört, Opiumdampf nach Baudelaire, erscheinen Worte als Zitat im Notentext, sparsam, aber gewaltig: ‚Souvent pour s’amuser‘. So beginnt der ‚Albatros‘, dieses Gedicht über Herrlichkeit und Hilflosigkeit des Ästhetischen, mit dem Baudelaire wohl auf immer zu einem der Künstler für Künstler geworden ist.

Fabio Romano gibt die flimmernde (um noch ein Hoffmann-Wort einzuschleusen) Sonate Widmanns mit technischer Souveränität, und das heißt hier nicht wenig, mit durchleuchtender Gestaltung. Besser: durchschattend, fiebernd, Augen, die im Schlaf ein wenig offen stehen. Das Rätsel wird noch mehr Rätsel, je mehr es sich zu erklären scheint, je deutlicher seine Struktur vorgestellt wird. Von den Bezügen so see-, wie von der virtuosen Textur höhenkrank entsteht hier ein höchst vitales Gebilde. Die Nuancen bleiben bis in den Nachhall voll auskostbar, rhythmisch klar konturiert noch in den ‚rideaux de cristal‘, mit denen das Werk endet.

Mit Nachdruck und Sensibilität anderer Art widmet sich Romano auch Robert Schumann. Das erste der Nachtstücke, 'Mehr langsam, oft zurückhaltend', ursprünglich überschrieben als 'Leichenphantasie', entsteht mit einer durchschlagend mürben und herben Klangfarbe, ganz bei der Sache und deshalb überwältigend zagend, tastend. In den 'Gesängen der Frühe' hat das die Möglichkeit, zur staunenden, auch erschreckend leisen Durchsichtigkeit zu werden. Das Spätwerk Schumanns erhält eine gefasst hymnische Qualität von subkutaner Unruhe, und plötzlich zeichnet sich mit diesem Charakterzug Hölderlin als letzter literarischer Fluchtpunkt ab. Mancher Moment im eröffnenden Choral wirkt wie eine musikalische Ozelle. Und so mancher Moment wetterleuchtet in den Ohren – das gilt für diese Werke wie für die Baudelaire-Sonate und die klangsinnliche Toccata. Fabio Romano ist eine bemerkenswerte CD gelungen.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:




Tobias Roth Kritik von Tobias Roth,


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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Widmann, Jörg: fleurs du mal

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
WERGO
1
01.11.2010
Medium:
EAN:

CD
4010228680829


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WERGO

Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt.
Noch immer hält WERGO am Anspruch, unter den Goldschmidt seine "studioreihe neue musik" gestellt hatte, fest: die hörende wie lesende Beschäftigung mit der neuen Musik anzuregen und in Produktionen herausragender InterpretInnen und von FachautorInnen verfassten ausführlichen Werkkommentaren zu dokumentieren.
Auf mehr als 30 Schallplatten kam die Reihe mit roter und schwarzer Schrift auf weißem Cover, dann wurde die Unternehmung zu groß für einen Einzelnen. Seit 1967 engagierte sich der Musikverlag Schott zunehmend für das Label, 1970 schließlich nahm Schott das Label ganz in seine Obhut. Seither wurden mehr als 600 Produktionen veröffentlicht, die ungezählte Preise erhalten haben und ein bedeutendes Archiv der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts darstellen.
Kaum einer der arrivierten zeitgenössischen Komponisten fehlt im Katalog. Ergänzt wird dieser Katalog seit 1986 durch die inzwischen auf über 80 Porträt-CDs angewachsene "Edition Zeitgenössische Musik" des Deutschen Musikrats, die mit Werken junger deutscher KomponistInnen bekannt macht. Neben dieser Zusammenarbeit bestehen Kooperationen mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe ("Edition ZKM") und dem Studio für Akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks ("Ars Acustica"). Im Bereich "Weltmusik" kooperiert WERGO eng mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt und der Abteilung Musik des Ethnologischen Museums Berlin. Die "Jewish Music Series" stellt die vielfältigen Musiktraditionen der jüdischen Bevölkerungen der Kontinente in ihrer ganzen Bandbreite vor. Zahlreiche Veröffentlichungen mit Computermusik sind in der Reihe "Digital Music Digital" erschienen. Neue Editionen wie die legendäre "Contemporary Sound Series" des Komponisten Earle Brown oder die des Ensembles musikFabrik kamen in den vergangenen Jahren hinzu.
Die Diversifizierung, die das Programm von WERGO seit seiner Gründung erfahren hat, ist der Weitung des zeitgenössischen musikalischen Bewusstseins ebenso geschuldet wie sie zu dieser stets beitrug - eine Aufgabe, der sich WERGO auch in Zukunft verpflichtet fühlt.


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