
Widmann, Jörg - fleurs du mal
Glissant sur le gouffres amers
Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Der Pianist Fabio Romano kombiniert Werke von Schumann und Widmann in packender Manier, inhaltlich wie interpretatorisch.
Die Werke des Komponisten Jörg Widmann zeichnen sich durch einen produktiven, in verschiedenster Weise erneuernden und grundsätzlich friedlichen Zugriff auf die Vergangenheit aus – und diese künstlerische Klugheit lässt sich nicht durch einen Verweis auf die Versiertheit des Klarinettisten Jörg Widmann erledigen. Ein ebenso wenig eindimensionales, vielmehr ebenso fesselnd vielpoliges Portrait einer Verzahnung hat nun der Pianist Fabio Romano vorgelegt, indem er Jörg Widmann mit Robert Schumann kombiniert. Abwechselnd stehen hier die hoffmannianisch betitelten 'Nachtstücke' op.23 (1839) und die 'Gesänge der Frühe' op.133 (1853) einerseits und Widmanns 'Toccata', die 2002 für den ARD-Wettbewerb komponiert wurde, sowie 'Fleurs du mal. Klaviersonate nach Baudelaire' andererseits. Das letztgenannte Werk ist zwar bereits 1996/97 entstanden, liegt aber nun auf dieser CD als Weltersteinspielung vor.
Diese Kombinationen liegen durch den Bezug zu Zukunft und Vergangenheit beider Komponisten (das Coverdesign bringt die Spinnwebe ins Spiel, die europäische Bildtradition fasst diese Umgangsform im Emblem der Biene zusammen) ebenso nahe wie die literarischen Querstreben. Baudelaire, wie Hoffmann eine undeutliche, nächtliche Schwellenfigur, ist in diesem Frühwerk Widmanns zwar von seiner aus der Rückschau progressiv erkannten Seite gegenwärtig, im Groben, Düsteren – aber es herrscht auch hier genau die produktive Spannung zur Vergangenheit, die Schärfe des Bildvorrats und der beherrschten Form. In der Sonate entdeckt man weniger den flanierenden Dichter, der einen Hummer in den Passagen spazieren führte und zu prassen wusste, bis man ihn entmündigte – hier ist, purer, der Architekt der vergessensgenießerischen Künstlichkeit am Werk, die Lust an Klang- und Sprachfarbe, an so intimer wie riesiger Geste. Man denkt an den 'Rêve parisien': ‚C’était un palais infini, / Plein de bassins et des cascades / Tombant dans l’or mat ou bruni; // Et des cataractes pesantes, / Comme des rideaux de cristal, / Se suspendaient, éblouissantes, / A des murailles de métal.‘ Nur im zweiten Satz, der zarte und hypnotische Klänge beschwört, Opiumdampf nach Baudelaire, erscheinen Worte als Zitat im Notentext, sparsam, aber gewaltig: ‚Souvent pour s’amuser‘. So beginnt der ‚Albatros‘, dieses Gedicht über Herrlichkeit und Hilflosigkeit des Ästhetischen, mit dem Baudelaire wohl auf immer zu einem der Künstler für Künstler geworden ist.
Fabio Romano gibt die flimmernde (um noch ein Hoffmann-Wort einzuschleusen) Sonate Widmanns mit technischer Souveränität, und das heißt hier nicht wenig, mit durchleuchtender Gestaltung. Besser: durchschattend, fiebernd, Augen, die im Schlaf ein wenig offen stehen. Das Rätsel wird noch mehr Rätsel, je mehr es sich zu erklären scheint, je deutlicher seine Struktur vorgestellt wird. Von den Bezügen so see-, wie von der virtuosen Textur höhenkrank entsteht hier ein höchst vitales Gebilde. Die Nuancen bleiben bis in den Nachhall voll auskostbar, rhythmisch klar konturiert noch in den ‚rideaux de cristal‘, mit denen das Werk endet.
Mit Nachdruck und Sensibilität anderer Art widmet sich Romano auch Robert Schumann. Das erste der Nachtstücke, 'Mehr langsam, oft zurückhaltend', ursprünglich überschrieben als 'Leichenphantasie', entsteht mit einer durchschlagend mürben und herben Klangfarbe, ganz bei der Sache und deshalb überwältigend zagend, tastend. In den 'Gesängen der Frühe' hat das die Möglichkeit, zur staunenden, auch erschreckend leisen Durchsichtigkeit zu werden. Das Spätwerk Schumanns erhält eine gefasst hymnische Qualität von subkutaner Unruhe, und plötzlich zeichnet sich mit diesem Charakterzug Hölderlin als letzter literarischer Fluchtpunkt ab. Mancher Moment im eröffnenden Choral wirkt wie eine musikalische Ozelle. Und so mancher Moment wetterleuchtet in den Ohren – das gilt für diese Werke wie für die Baudelaire-Sonate und die klangsinnliche Toccata. Fabio Romano ist eine bemerkenswerte CD gelungen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!
Ihre Meinung? Kommentieren Sie diesen Artikel
Jetzt einloggen, um zu kommentieren.
Sind Sie bei klassik.com noch nicht als Nutzer angemeldet, können Sie sich hier registrieren.
Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
![]() Cover vergrößern |
Widmann, Jörg: fleurs du mal |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
WERGO 1 01.11.2010 |
Medium:
EAN: |
CD
4010228680829 |
![]() Cover vergössern |
WERGO Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt. Mehr Info... |
![]() Cover vergössern |
Jetzt kaufen bei...![]() |
Von Tobias Roth zu dieser Rezension empfohlene Kritiken:
-
Nachtstücke und Fieberträume: Weiter...
(Oliver John, 19.07.2003)
-
Für entdeckungsfreudige Naturen: Jörg Widmann, Komponist, Klarinettist und Professor in Freiburg, scheint es jedes Mittel recht, um den vier Streichinstrumenten extreme Schattierungen zu entlocken. Quartett Nr. 3 ist ein Knüller. Weiter...
(Prof. Egon Bezold, 31.10.2008)
Weitere Besprechungen zum Label/Verlag WERGO:
-
'Spannungslage einer Wohlstandsgesellschaft': Klanglich vorzüglicher Uraufführungsmitschnitt eines vielgestaltigen 'Oratoriums'. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
-
Faszinierende Klangwelten aus der Quelle der Stille: Matthias Kaul überzeugt mit John Cage. Weiter...
(Michael Pitz-Grewenig, )
-
Klanglich zerrissen: Diese Einspielung von Manfred Trojahns zweitem Streichquartett hat Referenzcharakter. Weiter...
(Michael Pitz-Grewenig, )
Weitere CD-Besprechungen von Tobias Roth:
-
Die Schäfer im Salon: Pastorale Kammerkantaten von Nicola Porpora in einer gelungenen Interpretation des Ensembles Stile Galante und der Mezzosopranistin Marina De Liso. Weiter...
(Tobias Roth, )
-
Nicht und nie genug: Ekaterina Derzhavina hat sämtliche Klaviersonaten Joseph Haydns eingespielt - und überzeugt dabei soweit es diese Musik zulässt. Weiter...
(Tobias Roth, )
-
Aus der Zeit: Das Duo Arp Frantz präsentiert einen gelungenen Brückenschlag zwischen Johann Sebastian Bach und György Kurtág. Weiter...
(Tobias Roth, )
Weitere Kritiken interessanter Labels:
-
Tanzende sowjetische Fußballer und Landarbeiter : Das Singapore Symphony Orchestra hat die berühmten Jazz-Suiten von Schostakowitsch eingespielt, kombiniert mit zwei Balletten, die das heldenhafte Leben der Menschen in der Sowjetunion zelebrieren. Weiter...
(Dr. Kevin Clarke, )
-
Mehr als vier Hände: Das Duo Genova-Dimitrov bietet an zwei Flügeln eine reiche Reinecke-Lese. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
-
Später Brahms, frisch präsentiert: Michael Collins und Stephen Hough überzeugen als kammermusikalisches Duo. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
Portrait

"Bei der großen Musik ist es eine Frage auf Leben und Tod."
Der Pianist Herbert Schuch im Gespräch mit klassik.com.
Sponsored Links
- klassik.com Radio
- Urlaub im Schwarzwald
- Neue Musikzeitung
- StageKit - Websites für Musiker, Veranstalter und Konzertagenturen
Hinweis:
Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers,
nicht aber unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Die Bewertung der klassik.com-Autoren:
Überragend
Sehr gut
Gut
Durchschnittlich
Unterdurchschnittlich