
Gouvy, Théodore - Iphigénie en Tauride
Bereicherung des Oratorienrepertoires
Label/Verlag: cpo
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Die von cpo veröffentlichte Einspielung von Théodore Gouvys 'Iphigénie en Tauride' stellt eine musikalisch sehr lohnende Bereicherung des Oratorienrepertoires der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar.
Als sich Théodore Gouvy mit dem Iphigenie-Sujet befasste, war die große Mode der Befassung mit dem Stoff lange verflogen. Vereinzelte Nachwehen vor allem aus historistischen Kreisen befassten sich mit der jungfräulichen Prinzessin, die sich in der wilden Fremde der Aufgabe ausgesetzt sieht, ihren eigenen Bruder zu opfern. Natürlich findet sich eine Lösung, wenn auch nur eine solche mit bloßer Waffengewalt. Eine humanistische (wie bei Goethe) oder Deus-ex-Machina-Lösung (Euripides, Gluck) scheint Gouvy, hin- und hergerissen in Folge des deutsch-französischen Kriegs, unmöglich, und so ist sein Oratorium möglicherweise wenigstens teilweise auch politisch aufzufassen. Besonders delikat mag dies scheinen mit Blick auf die Tatsache, dass das Werk 1884 simultan auf Französisch und Deutsch (in Deutschland) gedruckt wurde.
Das Ergebnis ist ein ausgewachsenes Chororatorium in vier Teilen, das im Stil Bruch oder Gounod, in Momenten auch Schumann, Mendelssohn und Berlioz verwandt ist, in manchen Stellen ausgesprochen opernhaft (man höre etwa den fast wagnerischen Beginn des dritten Teils). Was für ein ausgezeichneter Handwerker Gouvy war, erweist sich bald, doch auch, wie stark seine Komposition im 19. Jahrhundert verwurzelt ist, nicht nur vom Sujet, sondern auch stilistisch (mit teilweise herrlichen Effekten, etwa der Szene der Furien und Rachegeister). Sie reiht sich in die große Tradition halbszenisch konzipierter weltlicher Oratorien, die sich in ganz Zentraleuropa seit dem frühen 19. Jahrhundert bis ins frühe 20. Jahrhundert gehalten hat.
Die Partie der Iphigénie ist eine höchst anspruchsvolle – Christine Maschler, als Solistin wie auch unter anderem als Mitglied des Bayreuther Festspielchors tätig, ist ihr nur bedingt gewachsen. Viele der zahlreichen erforderlichen Klangvaleurs stehen der (leider allzu oft einen Hauch zu tief singenden) Mezzosopranistin zwar zu Gebote, doch mangelt es ihrer Stimme für die Partie vielleicht ein wenig an frankophoner Eleganz, die gerade für die hier eingespielte französische Fassung besonders wichtig ist. Der Tenor Benjamin Hulett bietet für den Pylade ein lyrisches, feines Timbre, für seine Rolle bestens geeignet ('Oreste, souviens-toi' klingt fast wie eine Liebesarie) – ganz anders als Vinzenz Haabs Bassbariton, von dem man sich wünscht, dass er (trotz wunderbarer Piani und Pianissimi) seine Partie des Oreste mit Ekkehard Abele getauscht hätte, dem mit seinem balsamischen Bariton für den Part des Skythenkönigs Thoas die erforderliche Schwärze (und rein vokale Tiefe) fehlt (wie zahm er im vierten Teil klingt!). Wenn man so will, weist Haabs Stimme vokal eine Verwandtschaft zu jener Maschlers auf (die ja seine Schwester singt) – d.h. ähnlich fehlt Haab ein wenig der von einem ‚kultivierten Griechen‘ zu erwartende elegante Einschlag. Dies kontrastiert zwar gut mit Huletts eleganter, ausdrucksfähiger Stimme und passt auch immer wieder zu der Musik, doch werden ‚kulturelle Grenzen‘ aufgeweicht. Wenn Haab singt 'J’ai trahi l’amitié, j’ai trahi la nature', hört man nur wenig von einer gequälten oder verzweifelten Seele, sondern einen immer noch eher kraftvollen Bassbariton.
In seinem Element scheint die Kantorei Saarlouis unter seinem Gründungsdirektor Joachim Fontaine zu sein – der Chor hat perfekt das Idiom der Komposition erfasst und ist (von seltenen Problemen in den Spitzentönen) auch im Stande dieses musikalisch umzusetzen. Ähnlich steht es mit La Grande Société Philharmonique, einem historisch informiert (aber nicht auf alten Instrumenten) musizierenden Sinfonieorchester, dessen Klang wohltuend durchsichtig und gleichzeitig unaufdringlich idiomatisch ist. Fontaine weiß den rechten Puls, die rechten Farben zu finden, um so der Partitur, die leicht angestaubt klingen könnte, rechtes Leben einzuhauchen – man beachte etwa jenen den ersten Teil abschließenden Chor der Skythen, der kompositorisch unterschwellig eine Referenz auf Beethovens 'Ruinen von Athen' mit sich führt.
Die Aufnahmetechnik ist für eine Oratorienaufnahme erfreulich durchsichtig und bestens ausbalanciert, das Booklet kompetent und mit allen erforderlichen und wünschenswerten Informationen sowie einem insgesamt dreisprachigen Libretto. Einzig ein Punkt blieb dem Rezensenten unverständlich: Warum auf Innentitel und Boxrücken behauptet wird, die Komposition sei ‚after Johann Wolfgang von Goethe‘ entstanden, wo sie doch weder von der Handlung noch der Textgestaltung Ähnlichkeiten zu Goethes Drama aufweist. Doch davon abgesehen handelt es sich um eine interessante, musikalisch sehr lohnende Bereicherung des Oratorienrepertoires der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Gouvy, Théodore: Iphigénie en Tauride |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
cpo 2 20.04.2010 |
Medium:
EAN: |
CD
761203750429 |
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cpo Wohl kaum ein zweites Label hat in letzter Zeit soviel internationale Aufmerksamkeit erregt wie cpo. Die Fachwelt rühmt einhellig eine überzeugende Repertoirekonzeption, die auf hohem künstlerischen Niveau verwirklicht wird und in den Booklets eine geradezu beispielhafte Dokumentation erfährt. Der Höhepunkt dieser allgemeinen Anerkennung war sicherlich die Verleihung des "Cannes Classical Award" für das beste Label (weltweit!) auf der MIDEM im Januar 1995 und gerade wurde cpo der niedersächsische Musikpreis 2003 in "Würdigung der schöpferischen Leistungen" zuerkannt.
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