
Bach Metamorphosen - Orchesterwerke von Stokowski, Walton, Holst u.a
Echtgold oder Talmi?
Label/Verlag: Atma classique
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Yoav Talmi wollte mit dem Orchestre symphonique de Québec neue Farben entdecken. Es ist - zum Teil - gelungen.
Bach in orchestraler Gewandung ist seit dem 19. Jahrhundert nichts Neues, im Grunde handelt es sich bei der Transkription von Kompositionen für einen anderen Klangkörper sogar um eine bereits im Barock ganz selbstverständliche Angelegenheit. Doch das Ziel dieser CD war erklärtermaßen ein anderes: Yoav Talmi wollte mit dem Orchestre symphonique de Québec in Bachs Musik neue Farben entdecken. Er stellt die ‚bescheidene Frage: Hätte Bach ein großes, kraftvolles Ensemble zur Verfügung gehabt, hätte er seine Werke für ein solches Orchester bearbeitet?’ Natürlich lautet seine Antwort ‚Ja’, auch wenn der Rezensent sehr bezweifeln muss, ob Bach einige der hier vorgelegten Übertragungen hätte ertragen können. Hier scheint ein übergroßer Anspruch an ein eigenes Projekt gestellt, das durchaus für sich stehen kann, das aber in der heutigen CD-Landschaft nichts nennenswert Neues liefert.
Im Kern stammen die für das kanadische Label ATMA Classique eingespielten Orchestertranskriptionen aus gerade einmal zwanzig Jahren, den Jahren des Neoklassizismus im 20. Jahrhundert. Entsprechend zu verstehen sind auch fast alle der eingespielten Bearbeitungen – als Auseinandersetzungen von Musikern mit dem Bach’schen Erbe, das mehr und mehr wieder im öffentlichen Bewusstsein Fuß fasste.
Pompös eröffnet Talmi sein Programm mit Leopold Stokowskis berühmter Orchesterfassung der Toccata und Fuge d-Moll BWV 565 für den Film 'Fantasia' – eine Orchesterfassung, die heute angesichts der historisch informierten Klangästhetik womöglich sehr Geschmackssache ist. Mehr denn je zweifelt der Rezensent angesichts dieser Orchesterfassung, ob die Originalkomposition tatsächlich von Bach stammt (diese Frage wird bereits seit langer Zeit durchaus kontrovers diskutiert). Leider ist Talmi im Vergleich zu Stokowskis eigener Interpretation nicht ganz so kraftvoll und überzeugend.
Weitaus substanzvoller als die Hollywoodfassung Stokowskis erscheint dem Rezensenten Ottorino Respighis 1929 entstandene Transkription von Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582 - durchaus ‚historistisch’ ebenfalls ganz der Klangästhetik der Spät- oder Nachromantik verbunden, aber mit hübschen Concertino-Einlagen, die beweisen, dass Respighi die Grundidee von Bachs Komposition durchaus verstanden und ins 20. Jahrhundert übertragen hat. Einer ähnlichen Herangehensweise folgt Edward Elgar 1921 mit seiner Orchesterfassung von Fantasie und Fuge c-Moll BWV 537. Gustav Holsts Orchestrierung der 'Fugue à la gigue' BWV 577 aus dem Jahr 1928 folgt einem eher kammermusikalischen Zugang, wie er sich auch in Holsts Fugal Concerto op. 40 Nr. 2 widerspiegelt. Holst hatte zunächst eine Blechbläserfassung erstellt, wovon man allerhöchstens in den Schlusstakten eine Spur erahnen kann. Diese drei Bearbeitungen hatte auch Leonard Slatkin bereits 1999 für Chandos eingespielt – beide Einspielungen scheinen einander gleichwertig, beim eröffnenden Concertino in der Holst-Bearbeitung ist Talmi gleichwohl präziser, dafür aber bietet Slatkin (oder die Chandos-Tontechnik) einen insgesamt ausgewogeneren Orchesterklang und besser eingebettete Soli.
William Walton verwendete für sein 1940 uraufgeführtes Ballett 'The Wise Virgins' naturgemäß ein kleineres Orchester und arbeitete eng mit dem Ballettdirigenten Constant Lambert zusammen. Die vollständige Partitur ist heute verloren (wurde aber jüngst rekonstruiert), doch eine Suite (mit Sätzen aus den Kantaten BWV 99, 85, 26, 208 und 129 sowie dem Choralvorspiel 'Herzlich tut mich verlangen' BWV 727) hat sich erhalten und wurde bereits 1940 erstmals unter Leitung des Komponisten eingespielt. Ähnlich wie Holst kommt Waltons Bach teilweise sehr barockisierend daher, mit vielen Soli und einem Schwerpunkt auf der Durchhörbarkeit der kontrapunktierenden Stimmen. Hier ist Talmi in seinem Element - die Chandos-Einspielung unter Bryden Thomson von 1990 lässt er deutlich hinter sich, ist aber nicht ganz so spritzig und elegant wie jene unter David Lloyd-Jones für Naxos 2001.
Verstörend in dieser Gesellschaft ist Anton Weberns seriell angehauchte Verarbeitung der Ricercata (Fuga a 6) aus dem 'Musikalischen Opfer' BWV 1079 aus den Jahren 1934-5 – weiter entfernt von Stokowskis Hollywood-Pomp kann man kaum sein. Dennoch gibt es in gewisser Weise vielleicht sogar eine Verbindung – der Gebrauch des Portamento um die Mitte des Stückes verleiht auch Weberns Bearbeitung einen Hauch von Dekadenz.
Bleibt die einzige Ersteinspielung – Talmis eigene 2007 für diese CD-Produktion entstandene Fassung des Italienischen Konzerts BWV 971 für Cembalo und Orchester. Die Umsetzung für Orchester ist konventionell, aber ansprechend – doch der Einsatz des Cembalos scheint wie ein Fremdkörper, sowohl in dieser Bearbeitung als auch auf der CD. Vor allem klingt das Cembalo viel zu laut - etwa wie Bach-Cembalokonzerteinspielungen aus den 1960er- oder 1970er-Jahren. Immer wieder haben wir auf dieser CD ein Ungleichgewicht von zu stark hervorgehobenen Soli und gesamtem Orchester.
Das Booklet der CD gibt hinreichend über die einzelnen Bearbeitungen Auskunft, nur der Entstehungszeitraum der Webern-Bearbeitung fehlt. Keine volle Punktzahl, da den Interpreten (selbst dem Cembalisten) viel Platz eingeräumt und dafür an einer deutschen Textfassung gespart wird.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Bach Metamorphosen: Orchesterwerke von Stokowski, Walton, Holst u.a |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Atma classique 1 22.09.2008 |
Medium:
EAN: |
CD
722056257022 |
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Atma classique Das Label ATMA - Seele oder Lebensgeist auf Sanskrit - wurde 1995 gegründet und bietet inzwischen mehr als 200 Aufnahmen von mittelalterlicher bis zu zeitgenössischer Musik mit einem besonderen Schwerpunkt im Barock. Für ihre Aufnahmen umgibt sich Johanne Goyette, Direktorin und zugleich Toningenieurin der Firma, gerne mit wagemutigen Künstlern, um in ihrem Studio Unerhörtes (und Ungehörtes) zu schaffen.
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