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Donnerstag, 28. September 2023

Beethoven, Ludwig van - Fidelio

Etikettenschwindel


Label/Verlag: NCA - New Classical Adventure
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Musikalisch überzeugender 'Fidelio', der aber im Szenischen viele Wünsche offen lässt.

Kennen Sie Beethovens 'Fidelio’? Glauben Sie wirklich? Dann lassen Sie sich von der hier vorgelegten DVD überraschen. Schon der erste Akkord lässt aufhorchen. Das ist doch gar nicht die 'Fidelio’-Ouvertüre! Nein, ist sie nicht, und schon bald können wir feststellen, dass sich diese Aufführung auch sonst nicht an dem 'Fidelio’, wie wir ihn seit Jahrzehnten kannten, orientiert. Das wäre ja an sich nicht so schlimm, wenn die Produktion eine echte Legitimierung bringen würde – doch der Dramaturg Heiko Cullmann kommt im Booklet mit abenteuerlichsten Thesen daher, die rechtfertigen sollen, weswegen wir es hier gar nicht mit dem 'Fidelio' von 1814 zu tun haben, sondern mit einer Mixtur (in England gibt es das schöne Wort der ‚concoction’) von Elementen aus verschiedensten Entstehensphasen der Oper 'Leonore’ mit der Fassung von 1814. Ganz ohne Frage hat sich Cullmann intensiv mit der Quellenlage befasst – doch darf man das Ergebnis dann nicht simplifizierend als 'Fidelio' anpreisen. Ein eindeutiger Fall von Etikettenschwindel.

Und das ist schade, denn musikalisch erleben wir durchaus Beachtliches. Die Burgarena Reinsberg in Niederösterreich (nicht zu verwechseln mit den Schlossfestspielen im brandenburgischen Rheinsberg) wird seit 2007 von Martin Haselböck und der Wiener Akademie ‚bespiel’. Das bedeutet historisch informierte Musikaufführung auf höchstem, gesanglich häufig zumindest hohem Niveau. Beethovens Musik kommt postmodern aufgeraut auf alten Instrumenten daher, doch nicht übertrieben, sondern in einer gesunden Mischung aus Lebendigkeit und Kontemplation. Höchst akkurat der Chor – mit wunderbarem Pianissimo, doch leider insgesamt etwas zu überartikuliert (meint: Fratzen schneidend).

Man wundert sich, noch nicht viel von Claudia Iten gehört zu haben – eine ganz ausgezeichnete Leonore, die beispielsweise Hildegard Behrens an Stimmqualität deutlich übertrifft und ihr auch in Bühnenpräsenz kaum nachsteht. Hoffen wir, dass sie die Karriere macht, die sie verdient. Überhaupt die Frauen – vokal deutlich besser als die Männer, auch Bernarda Bobro (Marzelline), charmant und vital ihre Rolle ausfüllend (wenn sie singt 'es wurde zu Tode mir bang’, ist der Zuschauer allerdings keineswegs geneigt ihr zu glauben).

Nun aber die Herren: Der junge polnische Bassbariton Tomasz Konieczny gibt den Pizarro – eine Rolle, in der er auch in Mannheim zu sehen war. Eine große Stimme, mit einem Kloß im Mund, von deutscher Sprachfähigkeit weit entfernt (ich fühlte mich ein wenig an Zoltán Kélémen unter Karajan erinnert), und dadurch in der Rolle nicht wirklich effektvoll. Konieczny hat eine gute Bühnenpräsenz und wird in den richtigen Rollen sicher sehr überzeugend sein (und mit entsprechendem Sprachcoach). Vokal leichter – im Grunde ein wunderbarer Basso cantante – ist der gebürtige Wiener Wolfgang Bankl, durch seine leichte, flexible Stimme nicht ganz für den Rocco geeignet, den er aber mit großer musikalischer Intelligenz darstellt. Der Schüler unter anderem von Waldemar Kmentt ist seit 1993 Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper und hat dort ein Repertoire von Mozart bis zu Uraufführungen geboten. Darstellerisch ist er äußerst überzeugend, als fürsorglicher Vater ebenso wie als innerlich zerrissener Kerkermeister – einzig die Worte 'ich bin ja bald des Grabes Beute' kann man dem hochvitalen Musiker nicht abnehmen. Alexander Kaimbacher, lyrischer Tenor an der Wiener Staatsoper, füllt die Partie des Jaquino mit vielen Zwischentönen – eine Freude ihm zuzusehen. Die Rolle des Florestan nun mit dem farbigen Heldentenor Ronald Samm zu besetzen, ist nach Meinung des Rezensenten heute anachronistisch, zumal in einer historisch informiert intendierten Aufführung. Schon John Eliot Gardiner hatte bei seiner CD-'Leonore' Schwierigkeiten, einen Sänger vom Kaliber eines Ernst Haefliger oder Waldemar Kmentt für den Florestan zu finden – doch nur ein essenziell lyrischen Tenor kann der heiklen Partie in allen Facetten gerecht werden, insbesondere in Gesellschaft so hochkarätiger sängerischer Umgebung. Samm ‚stemmt’ die Partie im wahrsten Sinne des Wortes, er hat eine strahlkräftige Stimme mit sehr guter Höhe, ist ihr also vokal durchaus gewachsen, aber eben im Grunde zu laut. Außerdem kann man Samm (ich bitte um Vergebung) keinen Moment abnehmen, dass er mehrere Wochen, geschweige denn Monate, im Kerker verbracht hat – seine füllige Statur scheint um kein Gramm abgemagert zu sein, sein Maßanzug passt immer noch bestens und ist (ebenso wie die Anzüge der Gefangenen) hochgradig sauber.

Womit wir zu der Inszenierung kommen. Wir sind in irgendeinen x-beliebigen Staat des 20. oder 21. Jahrhunderts, schwarze Uniformen, Marzelline bügelt, während Jaquinos Pager im Eröffnungsduett ‚anklopft’. In der kargen Stube Roccos und Marzellines hängt ein Bild der toten Mutter (ein Foto von Eva Marton?), Leonore trägt Kurzhaarschnitt und flirtet unverhohlen mit Marzelline. Die Dramaturgie hat nicht nur die Musik völlig neu konzipiert, gleichzeitig wurde der Dialog auf ein Minimum reduziert – jedweder Anspruch auf „historische Werktreue“ ist nicht nur damit, sondern auch mit der bewussten Ignorierung zahlreicher originaler Regieanweisungen (kahle, einfallslos gestaltete Bühne) ad absurdum geführt. Doch das alles wäre vielleicht noch zu verzeihen, hätte man das Gefühl, dass der Regisseur wenigstens ein bisschen Gespür für die Musik besäße. Doch wie so oft heutzutage wird gegen die Musik inszeniert, mithin die Bühnenproduktion unnötig. Ungenügende Fernsehregie tut ein Übriges, um der Aufführung viel von ihrer möglicherweise vorhandenen Substanz zu rauben – sinnlose Totalen, kein klares Konzept bezüglich der Verknüpfung von Bewegungsregie (gibt es eine solche beim Chor?) und Bildregie, all das ist dazu angetan, die DVD ohne Bild anzuhören. Was insofern problematisch ist, als auch auf der Tonspur arges Rauschen das Vergnügen trübt. Schade um die gute musikalische Produktion, die aber zu keinem organischen Ganzen geworden ist. Dass die DVD keine Extras bietet und sich das Regieteam im Booklet vor den Musikern hat präsentieren lassen, spiegelt die Schieflage, in der die Opernwelt heute immer wieder anzutreffen ist.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:
Features:
Regie:







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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Beethoven, Ludwig van: Fidelio

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
NCA - New Classical Adventure
1
16.01.2009
Medium:
EAN:

DVD
4019272602047


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NCA - New Classical Adventure

20 Jahre NCA

Als im Jahre 1992 das Klassiklabel NCA ins Leben gerufen wurde, dachte niemand daran, dass man heute das 20-jährige Jubiläum feiern könnte. In zwei Jahrzehnten wurde ein Katalog geschaffen, der mehr als 150 Produktionen umfasst und zum Besten gehört, was die Klassik zu bieten hat.

NCA steht für neue Interpretationen bekannter Werke, steht für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit Musik in den verschiedensten, vielleicht auch ungewohnten Besetzungen, steht für auserlesene, oft zu Unrecht selten oder bisher noch nie eingespielte Werke in allen Stilistiken der klassischen Musik, was insgesamt zum Markenzeichen des Labels wurde und ist damit die ideale Ergänzung für den Plattenschrank eines Klassikliebhabers werden.Dabei ist selbstverständlich Grundvoraussetzung eine hohe künstlerische und technische Qualität der Einspielungen.

Bei NCA findet sich keine Trennung des Repertoires, sondern alle Einspielungen dienen gleichberechtigt dem einen Zweck, das Phänomen ?Musik? im Sinne eines Mosaiks ganzheitlich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) entstehen zu lassen.

Viele Einspielungen aus sämtlichen Genres der klassischen Musik wurden von der Fachpresse hochgelobt und mit diversen Preisen ausgezeichnet. Viele berühmte und weltbekannte Künstler zeugen von der höchsten Qualität der Produktionen. Ein besonderes Augenmerk gilt der Förderung junger und aufstrebender Künstler, um ihnen ein Sprungbrett in die weite Welt der Klassik zu bieten.

Wenn Sie Lust auf klassische Abenteuer im besten Sinne des Wortes haben, dann sollten Sie sich NCA nicht entgehen lassen!

Klaus Feldmann
A&R Managing Director


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