> > > Kalitzke, Johannes: Vier Toteninseln für Orchester mit zwei Solisten
Freitag, 31. März 2023

Kalitzke, Johannes - Vier Toteninseln für Orchester mit zwei Solisten

Suggestiv und anrührend


Label/Verlag: Kairos
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Das Label Kairos widmet dem Komponisten Johannes Kalitzke eine neue CD-Produktion mit zwei sehr unterschiedlichen Werken.

Als Dirigent ist Johannes Kalitzke eine weithin gefragte Interpretenpersönlichkeit, die sich mit akribischer Lektüre und sorgfältiger Probenarbeit dem Schaffen von Zeitgenossen anzunehmen versteht. Dass er darüber hinaus jedoch auch als Komponist eine wichtige Größe im zeitgenössischen Musikbetrieb bildet, geht hinter der öffentlichen Wirkung dieser Dirigententätigkeit gelegentlich verloren. Das österreichische Label Kairos würdigt Kalitzkes Schaffen nun mit einer CD-Produktion, die zwei gewichtige Kompositionen jüngeren Datums enthält: die ‚Vier Toteninseln’ für Orchester mit zwei Solisten (2002/03) und die ‚Six covered settings’ für Streichquartett (1999/2000). So kontrastreich die Kombination beider aufgrund ihres äußeren Aufwands stark voneinander abweichenden Werke auf den ersten Blick auch sein mag, so schlüssig erweist sie sich doch, wenn man den jeweils vorherrschenden Umgang mit Tradition ins Auge fasst.

Schon allein für die ‚Six covered settings’ lohnt sich die Anschaffung der CD, denn bislang war das Werk nur auf einer nicht offiziell im Handel erhältlichen Dokumentation des WDR mit einem Mitschnitt der Uraufführung durch das Arditti String Quartet von den Wittener Tagen für neue Kammermusik 2000 zugänglich. Die konzentriert gearbeitete Komposition, deren Faktur aus sechs ineinander übergehenden Sätzen Kalitzkes kompositorisches Können eindrucksvoll unter Beweis stellt, zeichnet sich durch vielfältige Klangformen aus, an denen auf unterschiedliche Weise Einflüsse und Bezüge aus der Vergangenheit gebrochen und zu einem ganzen Bündel verschleierter Anspielungen geformt werden. Das Salzburger Stadler Quartett, dessen Mitglieder zugleich auch dem renommierten Österreichischen Ensemble für Neue Musik angehören, überzeugt mit einer Wiedergabe, die den musikalischen Nuancen dieser diffizilen Komposition vollauf gerecht wird: Mit exzellentem Zusammenspiel und differenzierter Klangfarbenzeichnung spüren die Musiker den Umschwüngen der Musik nach, die sich vor allem in der ständigen Verschiebung von Vorder- und Hintergrund äußern. Die Durchsichtigkeit der extrovertierten, geräuschhaften Ausbrüche und die intensive Darstellung der äußerst zarten, oft schillernden Klangflächen bildet dabei die Bühne für die schattenhaft vorüber huschenden Fragmente von Tonalität, die sich wie selbstverständlich durch das Werk ziehen und bis in die radikalsten Passagen hinein musikalische Erschütterungen auslösen.

Auch die ‚Vier Toteninseln’ machen dieses Spiel mit Tradition zu ihrem Gegenstand. Hier ist es die konkrete Vorlage der ‚Vier ernsten Gesänge’ op. 121 von Johannes Brahms, die Kalitzke als Grundlage einer Übermalung nutzt, so dass das Original gelegentlich unter den neuen Texturen aufblitzt. Mit einer Anlagerung neuer Texte (etwa von Cesare Pavese und Lord Byron) an die Brahmssche Textkompilation lädt der Komponist das Werk mit Bildern von erotischer Todessehnsucht auf und schafft dadurch einen Assoziationsraum, dem er auch auf klanglicher Ebene begegnet. Die eigentümliche Ambivalenz, die von Beginn an aus dem Ineinander von solistisch besetztem Klavier und Tonbandklängen resultiert – dem Spiel von Thomas Larcher eignet hier sowie in den zart tastenden Passagen der anschließenden Sätze eine enorme Intensität –, setzt sich ins Orchester hinein fort, wo scharf akzentuierte Klangmassierungen mit ariosen, romantisch anmutenden Klängen konfrontiert werden. Der instrumentatorischen Vielfalt dieser Partitur, vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Leitung des Komponisten dargeboten, entspricht der mit Todesmetaphern angereicherte Baritonpart, den Thomas E. Bauer mit einer Mischung aus bewusst distanziertem, stellenweise auch sachlichen Tonfall und klangvoller Emotionalität umsetzt.

Dass Kalitzke nach den Steigerungen der dritten ‚Toteninsel’, die das Orchester fast bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit bringt, im letzten Teil mit Mitteln wie den vom Tonband eingespielten Glasharmonikaklängen zu besonders eindrücklichen, ja sphärisch anmutenden Klangwirkungen findet, ohne dabei im geringsten die abgeschmackten Wirkungen von Betroffenheitskitsch zu tangieren, zeugt von seiner gestalterischen Fähigkeit als Komponist. Die Suggestivität dieser Musik, hinter der sich eine zutiefst persönliche Reflexion über die häufig verdrängte Realität des Todes in unserer Gesellschaft verbirgt, ist einfach großartig. Hier liegt – und dazu tragen auch die beiden Werkkommentare des Komponisten sowie ein Interview mit Produzent Peter Oswald im Booklet bei – nicht nur einfach eine empfehlenswerte Platte, sondern eine Veröffentlichung mit zutiefst anrührender zeitgenössischer Musik vor, die es verdient, häufiger gespielt und gehört zu werden.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Kalitzke, Johannes: Vier Toteninseln für Orchester mit zwei Solisten

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Kairos
1
15.02.2008
Medium:
EAN:

CD
9120010281273


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