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Freitag, 22. September 2023

Schwartz, Jay - Music for five stringed instruments

Von der Topologie der Klänge


Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Die Musik von Jay Schwartz bewegt sich zwischen Physik und Poesie und erreicht dadurch einen universalen Charakter.

‚Es ist gut für die Seele des Komponisten, etwas zu schreiben, das nichts anderes zu sein vorgibt, als es ist’ sagte Morton Feldman einmal über eines seiner Werke. So ähnlich verhält es sich mit der Musik von Jay Schwartz. ‘Music for Orchestra’, ‘Music for Chamber Ensemble’, ‘Music for Piano’ oder ‘Music for Autosonic Gongs’ sind seine Werke betitelt, und genau das wollen sie sein: Musik – klingende, in Form gebrachte Schwingungen, hörbar gemachte Physik. Vier Beispiele sind auf der Portrait-CD versammelt, die jüngst in der Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats bei Wergo erschienen ist.

Die 1997 entstandene ‘Music for Five Stringed Instruments’ markiert einen Wendepunkt in Jay Schwartz' Schaffen und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von weiteren Werken. Innerhalb von zwanzig Minuten wird hier das Entstehen eines tonalen Prozesses ausformuliert. Die Verlangsamung von Formprozessen, vom Übergang des Geräuschstadiums in einen Ton, mithin die Mikroskopierung der Tonerzeugung wird hier formal gestaltet. Diese Gestaltung unterliegt dabei einer strengen Architektur: Sowohl horizontal als auch vertikal, in Mikro- und Makrostruktur werden mathematische Prinzipien angewandt, von den Proportionen des Goldenen Schnitts bis zur Fibonacci-Reihe.

Das Geräuschhafte ist bei Schwartz nicht das Andere gegenüber einer tonalen Tradition sondern das Resultat einer extremen Konzentration auf die Ränder der Klangerzeugung. Wenn man in einem Schubertschen Streichquintett zu Beginn eines Akkordes das Bogengeräusch wahrnimmt, so ist dieses ‘Abfallprodukt’ der Tonerzeugung für Schwartz der Beginn eines gigantischen Zooms, einer Art von musikalischer Zeitlupe. Das Stadium zwischen Bogengeräusch und klingendem Ton wird auskomponiert, und der Hörer hat die Gelegenheit zu einer akustischen ‘Entdeckung der Langsamkeit’. Dass Langsamkeit nicht gleichbedeutend mit Langwierigkeit ist, liegt an dem außergewöhnlichen Formsinn von Jay Schwartz. Die Struktur seiner Werke ist hervorragend ausgehört, so dass die Aufmerksamkeit des Hörers keiner Leerstelle ausgesetzt wird.

Zum zentralen musikalischen Gestaltungsmoment wird das Glissando. Es bietet die Möglichkeit des lückenlosen Übergangs zwischen zwei tonalen Stadien, somit zur totalen Ausdifferenzierung des Zwischenraums, gleichsam wie die Unendlichkeit der Spiegelachsen einer Kugel. Die Glissandi schaffen zugleich den Eindruck von Räumlichkeit und Weite, nicht zuletzt durch die Assoziation zum Doppler-Effekt. Obwohl die Glissandi in Schwartz' Music zunächst physikalische Bedeutung haben, ist er sich der Konnotationen dieser Gesten durchaus bewusst. Das absteigende Glissando ist in gewisser Hinsicht die Verlängerung des barocken Seufzermotivs, und hat durch seinen ausatmenden Habitus zutiefst menschlichen Charakter. Dadurch, dass Bogengeräusche den menschlichen Atemgeräuschen ähneln, meint der Hörer zuweilen, einem Bläserensemble beizuwohnen. So erklingen in der ‘Music for Orchestra’ an zentraler Stelle vermeintliche Bläserchöre, mitsamt ihren Obertoncharakteristika – allein, das Werk wird nur von Streichinstrumenten ausgeführt.

Die Portrait-CD besticht durch hervorragende Interpretationen: ‘Music for Orchestra’ erklingt in einem Live-Mitschnitt der Uraufführung, die das HR-Sinfonieorchester unter Diego Mason besorgte. Aus Stuttgart stammen die Aufnahmen der ‘Music for 12 Cellos’ und ‘Music for Six Voices’, die diese Zusammenstellung ergänzen, mit den Cellisten des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR unter der Leitung von Erik Nielsen und den Neuen Vocalsolisten. Das zentrale Werk der Einspielung, die ‘Music for Five Stringed Instruments’ wurde vom Kairos Quartett und Matthias Bauer neu aufgenommen.

Die Musik von Jay Schwartz in ihrem Schwebezustand kann, so mag man es ihr vorhalten, auf Dauer erhaben wirken – und erhoben über das Alltägliche unserer Zeit. Ihrer Schnelllebigkeit und Enge möchte Schwartz mit dem Gefühl von Langsamkeit, Weite und Raum etwas ganz anderes entgegensetzen. Und so wird die Erhabenheit verständlich: diese Musik, gleichsam wie ein auskomponiertes ‘sanftes Gesetz’ sensibilisiert für die innere Größe der kleinsten Partikel in der Materie die uns umgibt; als der Zeit unterworfene wird die Musik dem Hörer ähnlich. Adorno formuliert es in seiner ästhetischen Theorie: ‘Weniger wird der Geist vor der Natur seiner eigenen Superiorität gewahr als seiner Naturhaftigkeit. Dieser Augenblick bewegt das Subjekt vorm Erhabenen zum Weinen. Eingedenken der Natur löst den Trotz seiner Selbstsetzung: 'Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!' Darin tritt das Ich, geistig, aus der Gefangenschaft in sich selbst heraus.’

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:




Paul Hübner Kritik von Paul Hübner,


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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Schwartz, Jay: Music for five stringed instruments

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
WERGO
1
23.04.2009
Medium:
EAN:

SACD
4010228657227


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WERGO

Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt.
Noch immer hält WERGO am Anspruch, unter den Goldschmidt seine "studioreihe neue musik" gestellt hatte, fest: die hörende wie lesende Beschäftigung mit der neuen Musik anzuregen und in Produktionen herausragender InterpretInnen und von FachautorInnen verfassten ausführlichen Werkkommentaren zu dokumentieren.
Auf mehr als 30 Schallplatten kam die Reihe mit roter und schwarzer Schrift auf weißem Cover, dann wurde die Unternehmung zu groß für einen Einzelnen. Seit 1967 engagierte sich der Musikverlag Schott zunehmend für das Label, 1970 schließlich nahm Schott das Label ganz in seine Obhut. Seither wurden mehr als 600 Produktionen veröffentlicht, die ungezählte Preise erhalten haben und ein bedeutendes Archiv der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts darstellen.
Kaum einer der arrivierten zeitgenössischen Komponisten fehlt im Katalog. Ergänzt wird dieser Katalog seit 1986 durch die inzwischen auf über 80 Porträt-CDs angewachsene "Edition Zeitgenössische Musik" des Deutschen Musikrats, die mit Werken junger deutscher KomponistInnen bekannt macht. Neben dieser Zusammenarbeit bestehen Kooperationen mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe ("Edition ZKM") und dem Studio für Akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks ("Ars Acustica"). Im Bereich "Weltmusik" kooperiert WERGO eng mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt und der Abteilung Musik des Ethnologischen Museums Berlin. Die "Jewish Music Series" stellt die vielfältigen Musiktraditionen der jüdischen Bevölkerungen der Kontinente in ihrer ganzen Bandbreite vor. Zahlreiche Veröffentlichungen mit Computermusik sind in der Reihe "Digital Music Digital" erschienen. Neue Editionen wie die legendäre "Contemporary Sound Series" des Komponisten Earle Brown oder die des Ensembles musikFabrik kamen in den vergangenen Jahren hinzu.
Die Diversifizierung, die das Programm von WERGO seit seiner Gründung erfahren hat, ist der Weitung des zeitgenössischen musikalischen Bewusstseins ebenso geschuldet wie sie zu dieser stets beitrug - eine Aufgabe, der sich WERGO auch in Zukunft verpflichtet fühlt.


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