
Poppe, Enno - Holz - Knochen - Öl
Der Klang des Materials
Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Interpretatorische Belange können nicht im Vordergrund stehen bei einer Musik, für deren Realisierung die bedingungslose Versiertheit der Instrumentalisten vorausgesetzt werden muss.
Die Edition Zeitgenössischer Musik, ein gemeinsames Projekt des Deutschen Musikrats mit dem Label Wergo, widmet sich seit vielen Jahren den Schlüsselfiguren der musikalischen Avantgarde und bietet auch frischen Werken junger Tonschöpfer die Gelegenheit erster Verewigung. In diesem Jahr wurde die Reihe durch eine Ersteinspielung des Berliner Komponisten Enno Poppe (Jahrgang 1969) ergänzt – einen dreiteiligen, in Konzept und Umsetzung hoch interessanten Zyklus mit Titeln aus der Welt der organischen Stoffe: Holz, Knochen, Öl. Reale Eigenschaften dieser Materialien wie Elastizität, Trockenheit, Härte, Zähigkeit finden dabei Eingang in die Kompositionstechnik und werden zu Charakteristika der Musikstücke. In einem Vortrag an der Berliner Universität der Künste verdeutlichte Poppe die Korrespondenz zwischen den suggestiven, förmlich greifbaren Titeln seiner Stücke und der mathematischen Ratio, mit welcher er bei der Kombination natürlicher und künstlicher (additiv oder subtraktiv synthetisierter) Klänge vorgeht. Die Natur in all ihrer Komplexität wird dem Versuch musikalischer Verbildlichung unterworfen, so könnte man sagen. In der Einspielung ist das Ensemble Klangforum Wien mit seinem Dirigenten Stefan Asbury zu hören.
Das Kammerkonzert Holz ist das konziseste und kürzeste der drei Stücke, dessen Solopart einer Klarinettenstimme zugedacht ist – und damit, wie der Titel nahe legt, einem Holz-Blasinstrument. Während der elf Minuten wird in einer sehr durchsichtigen Partitur die Struktur des Materials verklanglicht, seine Fasern und Splitter in Musik umgesetzt. Neben dem niemals abreißenden und rhythmisch äußerst komplexen Klarinettenpart, der von Ernesto Molinari souverän verwirklicht wird, spielt das Synthesizerklavier eine wesentliche Rolle. Poppe setzt mit Vorliebe schwebende, fast körperlose Farben, gern in hoher Lage, neben unvermittelte, direkte Klangeruptionen – die Ereignisse erscheinen jedoch wie in Gruppen geordnet und streng determiniert, zu keiner Zeit wahllos. Synthesizer und dicht neben einander liegende Holzbläserstimmen erzeugen im Zusammenklang außerhalb der temperierten Skala liegende Frequenzverhältnisse und manifestieren Poppes Faible für mathematische Präzision in einer durchweg organisch wirkenden Musik.
Das gut zwanzigminütige Werk Knochen kann als eine burleske, dreisätzige Kammersymphonie angesehen werden. Diese Musik ist vom dominierenden und brillanten Einsatz verschiedenartigsten Schlagwerks geprägt, darunter hart bespannte große Trommeln, Metallstäbe, Donnerblech, Glocken und andere hochfrequente Perkussionsinstrumente. Das Martellato des ersten Satzes läuft in ein dezentes elektronisches Blubbern aus, um während des dritten Satzes wieder in ganzer Wildheit auszubrechen. Hier erklingen gewaltige, gewitterartige Impulse, gleichsam wie Einschläge von Schüssen, und die in Holz so charakteristische Elastizität ist hier einer kompromisslosen Direktheit und Härte, einer trockenen Endgültigkeit gewichen.
Zwischen anderen Extremen, Flimmern und Bersten, aber mit völlig anderen Mitteln kontrastierend bewegt sich die Musik in dem Stück Öl – ein träger, bisweilen ausufernder, aber kontinuierlicher Strom, der aus den Instrumenten aus- und in die Ohren eintritt, den Hörer förmlich umrührt. Beim ersten Hören kaum nachvollziehbar, nach dem Erschließen der kompositorischen Faktur allerdings höchst sinnfällig offenbart sich der Spannungsbogen des zweiteiligen Werks. Liegende, langsam strömende Melodiestimmen treten als der einzig prägnante Parameter auf, während der Rhythmus immer mehr zum Erliegen kommt. Es scheint an vielen Stellen weder eine Gleichzeitigkeit noch ein wahrnehmbares Hintereinander der Klänge zu existieren; Zusammenklänge verschmelzen oft völlig in ihr Kollektiv und formen sich zu einer orgelklangartigen, gleichsam bis in den hintersten Kirchenwinkel vielfach reflektierten Geräuschmasse. Der gedehnte zweite Satz, ursprünglich eigenständig als Wand konzipiert, suggeriert eine stetige Streckung und Verlangsamung, die mathematisch in an sich unmögliche Dehnung, die in Stillstand mündet.
Interpretatorische Belange können nicht im Vordergrund stehen bei einer Musik, für deren Realisierung die bedingungslose Versiertheit der Instrumentalisten vorausgesetzt werden muss, denn andernfalls wäre eine konsistente Aufführung nicht denkbar. Um zu einer Einschätzung der Qualität des Gespielten zu gelangen, ist es nicht notwendig, auf vergleichender Ebene zu argumentieren – Ersteinspielungen, an deren Verwirklichung der Komponist Anteil nehmen und sich gestaltend beteiligen kann, setzen gewissermaßen ihre eigenen Maßstäbe. Und das, was das Klangforum Wien und Stefan Asbury tun, wirkt durchweg überzeugend. Im Hinblick auf die Spieltechnik wäre einzig die Einsatzpräzision bei den engen, schwebenden Clustern der Holzbläser zu bemängeln, welche bei Poppe immer wieder kehren. Die Musik wird häufig von den Bläserstimmen getragen, die allerdings über fachspezifische, oft als unumgänglich tolerierte spieltechnische Mängel erhaben sind. Das krachend frische und zum Teil computergesteuerte Schlagzeug verleiht Poppes Musik eine unwiderstehliche Prägnanz. Impulshaftes und Flächiges fügt sich so zu einem Ganzen, das niemals in die Gefahr des Anscheins von Willkürlichkeit gerät. Ergänzt wird dieser empfehlenswerte Tonträger durch einen hervorragenden, aus Gesprächen mit dem Komponisten gespeisten Begleittext von Björn Gottstein, der die Näherung an Poppes Musik nicht nur wesentlich erleichtert, sondern durch detailgenaue Schilderung seiner Arbeitsweise sogar dazu einlädt.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Poppe, Enno: Holz - Knochen - Öl |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: Spielzeit: Aufnahmejahr: |
WERGO 1 01.06.2006 73:42 2005 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
4010228656428 WER 6564 2 |
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WERGO Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt. Mehr Info... |
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