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Freitag, 2. Juni 2023

Widmann, Jörg - Lied für Orchester

Schubert, der Fortschrittliche


Label/Verlag: Tudor
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Rihms ‚Erscheinung‘ ist dem gegenüber aus gröberem Holz geschnitzt, weist aber auch nicht die Expressivität aus, die man etwa aus den ‚Fremden Szenen‘ für Klaviertrio kennt.

‚Schubert Epilog‘ heißt eine CD mit Orchesterwerken zeitgenössischer Komponisten, die sich durch Schuberts Schöpfungen zu eigenen Kompositionen inspirieren ließen. Offenbar ist die Auseinandersetzung mit dem berühmten Wiener Romantiker sehr populär, denn parallel zu ihrem Zyklus mit Schubert-Symphonien konnten Jonathan Nott und die Bamberger Symphoniker eine weitere CD dieser Art aufnehmen – ‚Schubert Dialog‘ wählte man diesmal als Titel. Die vier Komponisten Jörg Widmann, Wolfgang Rihm, Bruno Mantovani und Dieter Schnebel gestalteten ihre Werke sehr unterschiedlich, zeitlich kann man eine Zweiteilung vornehmen: Rihms ‚Erscheinung‘ und Schnebels ‚Schubert-Phantasie‘ stammen aus den späten 1970er Jahren und sind bei aller Kantigkeit Dokumente einer Auseinandersetzung mit der Melodie, die für viele Komponisten des 20. Jahrhunderts ein Tabu darstellte. Widmanns ‚Lied‘ und Mantovanis ‚Mit Ausdruck‘ sind dagegen unmittelbar zeitgenössische Werke, beide 2003 entstanden.

Widmanns halbstündiges ‚Lied‘ ist trotz des Titels weit von neoromantischer Melodieseligkeit entfernt – der Komponist schreckt nicht vor klanglichen Härten zurück. Wie aber Nott und die Bamberger Symphoniker sehr schön herausarbeiten, besteht das Werk gleichsam aus zwei Schichten: In ausgedehnten leisen Passagen, die von ferne an Mahler erinnern, wird eine stets gefährdete Idylle entwickelt, in die gelegentlich heftige orchestrale Ballungen einbrechen. Widmanns Phantasie kennt dabei offenbar kaum Grenzen, er entlockt dem Orchester faszinierend neue Klänge, die auch konsonant sein dürfen – von traditioneller Dur-Moll-Tonalität ist freilich wenig zu hören. Die gelegentlichen Mikroton-Unterteilungen in den Streichern wirken nicht gewollt wie bei manch anderem Komponisten, sondern fügen sich schlüssig ins Gesamtbild ein. Das klanglich hochdifferenzierte, mit feinsten Nuancen arbeitende Werk wurde hervorragend eingefangen, noch die kleinste Schattierung kann vom Hörer nachvollzogen werden.

Rihms ‚Erscheinung‘ ist dem gegenüber aus gröberem Holz geschnitzt, weist aber auch nicht die Expressivität aus, die man etwa aus den ‚Fremden Szenen‘ für Klaviertrio kennt. In der Besetzung für Klavier und neun Streicher schwankt das Werk zwischen Orchester- und Kammermusik. Die Zweiteilung in langsame Einleitung (für das Klavier) und schnellen ‚Hauptsatz‘ (für die Streicher) erinnert zwar ganz entfernt an den Kopfsatz einer Symphonie, direkte Schubert-Anklänge wie bei Schnebel vermeidet Rihm aber. Zusammen mit dem Pianisten Peter Selwyn nehmen die neun Streicher der Bamberger Symphoniker die hohen technischen Hürden des Stückes mit Erfolg.

Bruno Mantovanis ‚Mit Ausdruck‘ ist alleine durch seine Besetzung für Bassklarinette und Orchester ein originelles Werk, die Anlage hat mit einem Konzert im traditionellen Sinne aber nur wenig gemeinsam. Zwar muß Solist Alain Billard so manche Schwierigkeit meistern, oft geht das recht leise Instrument aber regelrecht im Orchestergewimmel unter. Die in Widmanns Werk so hervorragend ausbalancierten Klangverhältnisse wirken in der Schöpfung seines französischen Kollegen aus den Fugen geraten. Dergleichen kann Dieter Schnebel nicht passieren: Seine mit Material der späten G-Dur-Klaviersonate arbeitende ‚Schubert-Phantasie‘ ist ein souverän mit einem geteilten Orchester arbeitendes Werk, das einen modernen ‚Schleier‘ über die bekannten Melodien legt.

Was man von den vier Werken auch halten mag – zwei Konstanten zeichnen diese Veröffentlichung aus: Das hohe interpretatorische Niveau der Bamberger Symphoniker und die ungebrochene Aktualität des Komponisten Schubert, dessen überreiches Oeuvre für viele Zeitgenossen einen Ausgangspunkt eigenen Schaffens darstellt. Lobend zu erwähnen ist schließlich der ausführliche Text des Booklets.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:






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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Widmann, Jörg: Lied für Orchester

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Spielzeit:
Aufnahmejahr:
Tudor
1
17.04.1996
77:47
2005
Medium:
EAN:

CD
7619911071325


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Mantovani, Bruno
 - Mit Ausdruck -
Rihm, Wolfgang
 - Erscheinung -
Schnebel, Dieter
 - Schubert-Phantasie -
Widmann, Jörg
 - Lied für Orchester -


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Dirigent(en):Nott, Jonathan
Orchester/Ensemble:Bamberger Symphoniker


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