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Samstag, 1. April 2023

Bach, Johann Sebastian - Matthäus-Passion

Zwei Brüder in Harmonie


Label/Verlag: Berlin Classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Das Dokument einer legendären Zusammenarbeit wird erneut veröffentlicht: vor 35 Jahren bildete die Einspielung der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach mit dem Kreuz- und dem Thomanerchor den krönenden Abschluss der beruflichen Zusammenarbeit der beiden Brüder Rudolf und Erhard Mauersberger. Die zwei Legenden deutscher Knabenchortradition vereinten seit 1962, als Erhard Mauersberger die 750-Jahr-Feier des Thomanerchors gestaltete, die beiden Chöre, um die großen Werke Bachs aufzuführen. Den Auftakt bildete die h-moll-Messe, 1964 gefolgt von der Matthäus-Passion. 1970 dann wurde diese Passion für die Schallplatte eingespielt. Rudolf Mauersberger war zu diesem Zeitpunkt seit nahezu 40 Jahren Kreuzkantor und hatte seine Kruzianer zu einem exzellenten Chor aufgebaut. Er war die prägende Figur des Chores, nicht zuletzt durch sein Engagement, nach den verheerenden Bombenangriffen auf Dresden vom 13. Februar 1945 die Kruzianer schnellstmöglich neu zu formieren und auch nicht zuletzt durch eigene Chorwerke, die er mit dem Kreuzchor zur Uraufführung brachte, wie zum Beispiel das ‚Dresdner Requiem’ oder die Passionsmusik nach dem Lukas-Evangelium. Erhard Mauersberger, der jüngere Bruder, war selbst Mitglied des Leipziger Thomanerchors, studierte bei Karl Straube und Otto Weinreich, war, wie zuvor sein Bruder, Kantor ich Aachen, später in Mainz. Als Landesmusikdirektor der Landeskirche Thüringen wurde Erhard Mauersberger zugleich Kantor der Georgenkirche und Leiter des Bachchors in Eisenach. 1961 wurde er Thomaskantor, ein Amt, das er bis 1972 innehatte.

Wehmut und Resignation

Es sind Zeiten angebrochen, in denen eine solche Aufnahme wie diese durchaus Wehmut bei den Hörern auslösen kann. Begegnet einem hier doch eine Qualität der Ausführung, die in ihrer Einmaligkeit unwiederholbar bleiben wird. Es schwingt eine große Portion Resignation mit, wenn man diese Aufnahme hört. Resignation aufgrund der Tatsache, dass die sängerische Qualität sowohl des Kreuz- als auch des Thomanerchors danach nie wieder dieses besondere Maß an Stringenz erreicht hat, wie zu Zeiten von Rudolf und Erhard Mauersberger. Wie soll es auch anders sein, wo doch konsequent an den tragenden Pfeilern der Kultur gesägt wird, wo Kinder nicht mehr singen können, weil sie viel lieber singen lassen und wo die Kids die frühe Mehrstimmigkeit nur durch die polyphonen Klingeltöne des Handys kennen.

Ideales Solistenensemble

Die Solistenschar der Produktion versammelte alles, was seinerzeit in der Pflege Bachscher Vokalmusik auf dem Zenit künstlerischer Ausdruckskraft stand, allen voran Peter Schreier als Evangelist und Theo Adam als Jesus, gefolgt von Adele Stolte, Annelies Burmeister, Hans-Joachim Rotzsch und Günther Leib.
Peter Schreier, selbst schon zur Sängerlegende geworden, sang in der Matthäus-Passion für die Platte unter Claudio Abbado, Kurt Masur und Karl Richter. Als Junge sang er als Knabenalt solistisch im Kreuzchor unter Rudolf Mauersberger, was ebenso diskographisch dokumentiert ist wie spätere Aufnahmen als reifer Tenor unter beiden Mauersbergers. Schreiers schlanker Ton ist der Idealtypus des Evangelisten. Klar artikuliert und auch in hoher Lage bestechend profiliert, trägt er den Evangelistentext mit dramaturgischer Zielgerichtetheit vor, in sicher phrasierten Sinneinheiten und betörender Klanglichkeit. Die Ausdrucksstärke Wagnerscher Opernrollen lässt Theo Adam als Jesus auch in Bachs Matthäus-Passion spüren. Weihevoll, taten- und gedankensicher ist dieser Jesus mit seiner charakteristisch volltimbrierten Ton und seiner großräumigen Stimmsicherheit. Adam lässt einen Jesus hören, der an dem ‚Es steht geschrieben und so sei es’ nicht zu rütteln gedenkt. Adele Stolte, eine der herausragendsten Bachinterpretinnen ihrer Generation, wartet mit einem nahezu ätherisch entrückten Sopran auf, hell und klar und doch von einem ungemein spannungsgeladenen Volumen. Wie sie zum Beispiel in der Arie ‚Aus Liebe will mein Heiland sterben’ den Klang aus den Liegetönen heraus zu entwickeln und modellieren weiß, das zählt schlichtweg mit zum Besten, was in dieser Art auf Platte zu hören ist. Dem steht Annelies Burmeisters Alt in nichts nach. Die bühnen- und opernbühnenerfahrene Sängerin deutet ihre Partien mit Binnenspannung aus. Die baritonale Schlankheit von Günther Leib ermöglicht eine flexible Tongebung in den Bass-Arien. Lediglich die Phrasierung ist nicht durchweg schlüssig und die Satzzusammenhänge bleiben passagenweise offen.. Wenig betrachtendes, kontemplatives Potential bietet Hans-Joachim Rotzsch mit seinem nasal scharfen Tenor, vor allem in der Arie ‚Ich will bei meinem Jesu wachen’, wo wenig dynamische Differenzierung auch seitens des Chores die einzige Enttäuschung der Aufnahme bleibt. Als erster Priester und zweiter Zeuge kann Rotzsch dafür umso mehr überzeugen und durch eine gewisse Theatralik an Glaubwürdigkeit gewinnen. Hermann Christian Polster als Pontius Pilatus und Hans-Martin Nau als zweiter Priester füllen ihre relativ kurzen Rollen mit ausdifferenzierter Plastizität aus.

Partiell historisch

Es bedarf eigentlich nicht der Erklärung, dass diese Aufnahme keine an der historischen Aufführungspraxis orientierte ist. Barocke Phrasierung wird stets durch den romantischen Zug geglättet und doch verliert die Musik dadurch nicht an Konturenschärfe. Gerade der Kreuz- und der Thomanerchor warten mit geschmeidigen, intonatorisch perfekt geschulten Stimmen auf, die mit dem heute oftmals starren und in der Höhe so problematisch unsauberen Klang von Knabenchören nicht vergleichbar sind. In den Chorälen zeigen sich die Chöre als Felsen in der Glaubensbrandung, so stimmlich klar disponiert sind sie zu hören. Viele mögen den Knabenklang in den Passionen nicht. Und doch ist es eine historische Tatsache, dass Bach eben nun mal keinen gemischten Chor vor sich hatte. Wie transparent die Harmonik erscheint, das kann ein gemischter Chor nur sehr schwer leisten. Hier hört man musikalisch logisch phrasierte Vorhaltsbildungen und in der Doppelchörigkeit der aufgebrachten Massen dynamische Steigerungen, die immer klar durchhörbar sind und deutlich machen, was die beiden Mauersberger-Brüder mit ihrer langjährigen differenzierten und effektiven Chorschulung geleistet haben. Man höre nur ‚Sind Blitze, sind Donner’: lupenreine Intonation in der Höhe, gepaart mit bestechender Transparenz der Faktur.
Das Gewandhausorchester spielt routiniert und mit dem glatten, noblen Klang, den es traditionsbedingt kultiviert, und das muss ja nicht negativ sein. Die Streicher entwickeln eine hohe Flexibilität in der Begleitung der entsprechenden Rezitative, mit sattem, vollem Klang, dass man sich einmal wieder richtig darin baden kann, wenn man genug hat von so mancher blutleerer Vibratolosigkeit der historischen Aufführungspraxis. Das Orchester spielt klangschön, doch stellenweise hätte die Binnenentwicklung der Töne weniger statisch sein können. Der Zusammenklang mit den beiden Chören ist herausragend ausgewogen, ebenso mit den Solisten.

Ein Schmuckstück

Berlin Classics präsentiert Bachs musikalischen Kultgegenstand in einer diesem Gegenstand würdigen Verpackung. Preußisch-blau samtbezogen der Schuber und mit etlichen Passionsdarstellungen verschiedener Jahrhunderte bedruckte CDs und Klappalbum. Ebenso das Booklet, welches weitere Abbildungen aus der Passionsgeschichte Jesu Christi und der darauf bezogenen Symbolik enthält.
Die Aufnahmequalität der 35 Jahre alten Einspielung ist hervorragend. Das Klangbild ist bestens ausgesteuert, Höhen und Tiefen sind plastisch wiedergegeben und auch bei höchster dynamischer Steigerung nie über- oder untersteuert.
Auf Immer-Wiederhören.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





Erik Daumann Kritik von Erik Daumann,


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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Bach, Johann Sebastian: Matthäus-Passion

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Berlin Classics
3
21.02.2005
Medium:
EAN:

CD
0782124839024


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Bach, Johann Sebastian


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Dirigent(en):Mauersberger, Erhard
Mauersberger, Rudolf
Orchester/Ensemble:Gewandhausorchester Leipzig
Interpret(en):Leib, Günther
Rotzsch, Hans-Joachim
Burmeister, Annelies
Stolte, Adele
Adam, Theo
Schreier, Peter


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Berlin Classics

Berlin Classics (BC) ist das Klassik-Label der Edel Germany GmbH. Es ist das Forum für zahlreiche bedeutende historische Aufnahmen, wichtige Beiträge der musikalischen Zentren Leipzig, Dresden und Berlin sowie maßgebliche Neuproduktionen mit etablierten und aufstrebenden jungen Klassik-Künstlern. Dazu zählen etablierte Stars, wie z.B. die Klarinettistin Sharon Kam, die Pianisten Ragna Schirmer, Sebastian Knauer, Matthias Kirschnereit, Anna Gourari und Lars Vogt, die Sopranistin Christiane Karg oder auch die Ensembles Concerto Köln, Pera Ensemble, sowie der Dresdner Kreuzchor und das Vocal Concert Dresden. Mehrfach wurden Produktionen mit einem Echo-Preis ausgezeichnet. Im Katalog von Berlin Classics befinden sich Aufnahmen mit Kurt Masur, Herbert Blomstedt, Kurt Sanderling, Franz Konwitschny, Hermann Abendroth, Günther Ramin, Peter Schreier, Ludwig Güttler, Dietrich Fischer-Dieskau, die Staatskapellen Dresden und Berlin, das Gewandhausorchester Leipzig, die Dresdner Philharmonie, die Rundfunkchöre Leipzig und Berlin, der Dresdner Kreuzchor und der Thomanerchor Leipzig. Sukzesssive wird dieses historische Repertoire für den interessierten Hörer auf CD wieder zugänglich gemacht, wobei die künstlerisch hochrangigen Analogaufnamen mit größter Sorgfalt unter Anwendung der Sonic Solutions NoNoise-Technik bearbeitet werden, um sie an digitalen Klangstandard anzugleichen.


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