> > > Schnittke, Alfred: Faust Cantata
Donnerstag, 30. November 2023

Schnittke, Alfred - Faust Cantata

Reizvolle Begegnung


Label/Verlag: Berlin Classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Am 23. Oktober 2004 gab der russische Dirigent Andrey Boreyko sein Debüt als Chefdirigent der Hamburger Symphoniker. Dieses Antrittskonzert in der Hamburger Musikhalle wurde mitgeschnitten und beim Label Berlin Classics auf CD veröffentlicht. Zentrales Werk des Abends war die Faust-Kantate ‚Seid nüchtern und wachet’ von Alfred Schnittke (1934-1998); umrahmt wurde das Stück von zwei Bach-Chorälen, vorweg ‚Wenn wir in höchsten Nöten sein’ und danach ‚Herr, ich habe mißgehandelt’, bevor Anton Weberns (1883-1945) eindrucksvolle Bearbeitung des ‚Ricercar à 6 voci’ aus Bachs ‚Musikalischem Opfer’ den Schlusspunkt setzte.

Faust sakral

Zwei schlichte Choralsätze für unbegleiteten Chor in einem Orchesterkonzert – das ist schon ungewöhnlich. Und dann sollen sie noch ein Stück moderner Musik umrahmen? Die Kantate des deutschstämmigen Sowjetrussen Schnittke bietet sich dafür jedoch bestens an. Denn bereits der Titel des Werks, der einem Brief des Paulus aus der Bibel entnommen ist, zeigt, dass es sich bei der Kantate tatsächlich um geistliche Musik handelt. Und so verwundert es auch kaum, dass nicht etwa Goethes ‚Faust’ die textliche Grundlage bildet, sondern das sogenannte Volksbuch, das ja auch primär den gläubigen Christen vor teuflischen Umtrieben warnen sollte. Die gesamte kompositorische Anlage erinnert deutlich an die Passionen Bachs. Da haben wir in der Stimmlage des Tenors einem Erzähler (bei Bach der ‚Evangelist’), und die solistisch besetzten Rollen der Protagonisten Faust (Bariton) und Mephisto (Countertenor und Alt) werden dem Chor entgegengestellt, der entweder, Bachs ‚Turba’ ähnlich, dem Sujet gemäß die Rolle von Freunden und Studenten übernimmt, oder durch Kommentare den geistlichen Inhalt betont; am Ende des Stückes wird dann auch, gewissermaßen als ‚Moral der Geschicht’, das vollständige Zitat aus dem Paulusbrief vom Chor vorgetragen. Interessant ist die stimmliche Doppelbesetzung des Mephisto, der in der Kantate als Mephostophiles und Mephostophila auftritt – Sinnbild für die doppelzüngige Sprache des Teufels. Schnittkes Faust-Oper ging übrigens aus der Kantate hervor und weist demzufolge große Parallelen zu dieser auf.

Polystilistische Kantate und analytische Instrumentierung

Schnittkes Musik wird gern und sicher nicht zu Unrecht als polystilistisch bezeichnet. So greift der Komponist in seiner Kantate auf Choralmelodien zurück, die jedoch distanziert verfremdet erscheinen, und Fausts gräuliches Ende wird in einer ganz besonders skurrilen Klangwirkung mit einem beschwingten Tango unterlegt. Immer spricht die Musik aber den Hörer auf emotionaler Ebene direkt an; sie ist leicht zugänglich, ohne dabei trivial oder seicht zu sein. Angesichts der Choralzitate erscheint die Gegenüberstellung von Schnittkes Kantate und ‚Originalen’ aus der Feder Bachs höchst gelungen und sinnfällig.
Es müssen aber gar nicht Originalwerke von Bach und moderne Kompositionen gegenübergestellt werden, um eine Verbindung herzustellen. Im Falle von Anton Weberns Bearbeitung des Bach-Ricercars für kleines Orchester reicht ein einziges Werk! Man hat das Stück treffend als ‚klingende Analyse’ bezeichnet, denn Webern verdeutlicht mit seiner feingliedrigen Instrumentierung die hochkomplexe Struktur des Werks, macht sie vielleicht sogar erst hörbar. Weberns Bearbeitung ist nicht mehr Bach, aber auch nicht Webern, sie steht schillernd in einem Grenzbereich und ist erfreulich weit entfernt von den schwülstigen Orchestrierungen, die manch anderer Komponistenkollege den Werken Bachs angedeihen ließ.

Die Interpretation: Vorbildlich

Man merkt es der Aufnahme zum Glück kaum an, dass es sich um einen Live-Mitschnitt handelt. Zum einen halten sich Nebengeräusche aus Publikum und Orchester so stark in Grenzen, dass sie nicht als störend empfunden werden, und zum anderen sind die Interpretationen außerordentlich gelungen und erfüllen sogar die Ansprüche an eine Studioeinspielung. Das Orchester war am Abend technisch gut aufgelegt und sicher in der Intonation; die heikle, da rücksichtslos gut durchhörbare Bach-Bearbeitung gelang unter Boreykos Leitung in einer fehlerfreien Wiedergabe, und die Kantate wurde in all ihren instrumentalen Facetten plastisch herausgearbeitet. Auch die gut disponierten Sänger tragen zu dem positiven Eindruck bei. Marina Prudenskaja (Alt) und Matthias Koch (Countertenor) verleihen dem Mephisto seine überzeugend einschmeichelnde Stimme, aber auch Andreas Schmidt (Bariton) als Faust und besonders Justin Lavender (Tenor) als Erzähler wissen insbesondere durch vorbildliche Textverständlichkeit zu gefallen. Auch der klangschöne, homogen besetzte und intonationssichere Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor wird seiner traditionsreichen Stellung gerecht und hat neben den Partien in der Kantate besonders in den kurzen Bach-Chorälen Gelegenheit, seine Stärken voll auszuspielen.

Technische Umsetzung: Gut

Die Tonqualität ist gut, jedoch vielleicht eine Nuance zu dumpf. Das Klangbild ist jedoch recht homogen und den ja doch recht verschiedenen Besetzungen stets gut angepasst. Man hat im übrigen darauf verzichtet, den Applaus des Publikums wiederzugeben. Das ist zwar kein dramatischer Verlust, reizvoll ist es bei einem Livemitschnitt aber doch, auch die Reaktion des Publikums mitzuerleben – und in diesem Falle die im Booklet besonders gelobte positive Resonanz auf das Hauptwerk des Abends verifizieren zu können.
Das Äußere der CD ist sehr ansprechend. Das Design ist in sich konsequent, stimmig und schön. Die Texte im bebilderten Booklet sind umfangreich, wenn auch die Kurzbiographien und Beschreibungen aller beteiligten Künstler und Institutionen etwas zu viel Raum gegenüber den aber immer noch ausreichend ausführlichen und insgesamt verständlich geschriebenen Werkbeschreibungen einzunehmen scheinen. Die Texte der Kantate und der beiden Choräle sind auf Deutsch und Englisch angefügt.

Wie bereits das Publikum in Hamburg erfahren durfte, muss Neue Musik nicht per definitionem abschreckend sein, es gibt ganz im Gegenteil auch Werke, die ganz direkt Gehörsinn und Gefühle ansprechen, ohne dabei auf gewisse stilistische Innovationen verzichten zu müssen. Eine durchdachte Programmgestaltung wie in diesem Fall fördert ganz nebenbei noch das Verständnis. Solch ein gelungenes Konzert zu dokumentieren, ist an sich schon lobenswert, gleichzeitig handelt es sich aber auch um eine Produktion, die besonders demjenigen ans Herz gelegt sei, der bislang mit gewissen Berührungsängsten mit Neuer Musik zu kämpfen hatte, ihr aber noch eine Chance zu geben bereit ist.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Schnittke, Alfred: Faust Cantata

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Berlin Classics
1
03.01.2005
Medium:
EAN:

CD
0782124177621


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Bach, Johann Sebastian
Schnittke, Alfred
Webern, Anton von


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Dirigent(en):Boreyko, Andrey
Orchester/Ensemble:Hamburger Symphoniker
Interpret(en):Prudenskaja, Marina
Koch, Matthias
Lavender, Justin
Schmidt, Andreas


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Berlin Classics

Berlin Classics (BC) ist das Klassik-Label der Edel Germany GmbH. Es ist das Forum für zahlreiche bedeutende historische Aufnahmen, wichtige Beiträge der musikalischen Zentren Leipzig, Dresden und Berlin sowie maßgebliche Neuproduktionen mit etablierten und aufstrebenden jungen Klassik-Künstlern. Dazu zählen etablierte Stars, wie z.B. die Klarinettistin Sharon Kam, die Pianisten Ragna Schirmer, Sebastian Knauer, Matthias Kirschnereit, Anna Gourari und Lars Vogt, die Sopranistin Christiane Karg oder auch die Ensembles Concerto Köln, Pera Ensemble, sowie der Dresdner Kreuzchor und das Vocal Concert Dresden. Mehrfach wurden Produktionen mit einem Echo-Preis ausgezeichnet. Im Katalog von Berlin Classics befinden sich Aufnahmen mit Kurt Masur, Herbert Blomstedt, Kurt Sanderling, Franz Konwitschny, Hermann Abendroth, Günther Ramin, Peter Schreier, Ludwig Güttler, Dietrich Fischer-Dieskau, die Staatskapellen Dresden und Berlin, das Gewandhausorchester Leipzig, die Dresdner Philharmonie, die Rundfunkchöre Leipzig und Berlin, der Dresdner Kreuzchor und der Thomanerchor Leipzig. Sukzesssive wird dieses historische Repertoire für den interessierten Hörer auf CD wieder zugänglich gemacht, wobei die künstlerisch hochrangigen Analogaufnamen mit größter Sorgfalt unter Anwendung der Sonic Solutions NoNoise-Technik bearbeitet werden, um sie an digitalen Klangstandard anzugleichen.


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