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Freitag, 2. Juni 2023

Piazzolla, Astor - Libertango

Die Gewichtigkeit der stummen Dolche


Label/Verlag: aeon
Detailinformationen zum besprochenen Titel


‘Der Windstoß Tango, diese Teufelei, / trotzt immer noch den überfüllten Jahren; / der Mensch, der Staub und Zeit ist, dauert kürzer/ denn leichte Melodie, die nichts als Zeit ist.’

Für den großen argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges wird der Tango im gleichnamigen Gedicht zur Metaphysik. Nicht bloß Tanz, nicht nur Bewegung, sondern Abbild eines ganzen Lebens, einer Generation, ja eines Zeitalters. Kaum ein anderer Tanz enthält wohl soviel Weltanschauung wie der Tango. Die strenge Rhythmik, die Form als Machtspiel; vielleicht macht das Tanz und Musik so anziehend, selbst wenn man nur indirekt an einem solchen Schauspiel teilhat.

Tangomusik ist weder Jazz noch Klassik, ist komponiert und doch improvisiert. Wenn also hier die Rede ist von einer Aufnahme mit Musik des argentinischen Komponisten und Bandeonisten Astor Piazzolla, so richtet sich dabei die Aufmerksamkeit auf gerüstbildende Kompositionen, die aber gleichzeitig zum Spielelement einer Improvisation werden. So interpretieren und improvisieren das Quartuor Caliente nebst dem Vibraphonisten Vincent Maillard gleichermaßen Musik von Piazzolla.
Das CD-Cover bleibt irreführend – der schlafende Kopf auf der Rückbank eines Autos ist keineswegs bezeichnend für diese so einmalige und inspirierte Platte.
Das beginnt schon mit der musikalischen Dramaturgie, denn es wechseln sich hier nicht unbedingt schnelle mit langsamen Stücken ab. Vielmehr entsteht der Kontrast schon innerhalb des Stückes, unterschiedlichen Spielkonstellationen; Soli, Tutti, improvisiert oder streng am Notentext.

Auf das erste Stück reagierte das Live-Publikum erwartungsvoll, aber dennoch zurückhaltend, obwohl sich schon in den ersten Minuten, wie es sich in der Rückschau auf das Gesamte herausstellt, alle charakteristischen Eigenheiten dieser Tangointerpretationen etablieren. Die Musiker – gerade der Pianist Cédric Lorel und der Geiger Guillaume Hodeau – kommen aus der klassischen Schule und sind (die Namen verraten es bereits) keineswegs spanischer oder lateinamerikanischer Abkunft. Eine ‘europäische’ Sicht also auf der Herzstück Argentiniens, die gerade durch ihre klassischen Spielarten in höchstem Maße besticht. Es sind die vielen stilistischen Zitate, der Paganini-Anklang, der Rachmaninow-Einschlag; und das alles, ohne die Musik dabei zu banalisieren.
Klassische Virtuosität gepaart mit den Eigenheiten von Latin-Jazz wirkt bei der formstrengen Tangomusik wie ein Aphrodisiakum. Man spürt die Leidenschaft, die Erotik dieser Musik mit jeder Pore: die Musik wird wahrhaft zum ‘sinnlichen’ Erlebnis.

Krönung der Platte ist wohl eine der besten Interpretationen des ‘Libertango’, der durch seinen mambohaften Zug die Natur des Tangos aus sich heraus bereits schon zersetzt. Diesen ‘Tango auf der Kippe’ inszenieren die fünf Musiker so gekonnt, so packend, dass es einem die Schauer über den Rücken treibt. Nur das Vibraphon phantasiert eingangs über die Harmonien des Themas, dann – und jetzt kommt's – baut sich ganz langsam und stetig der Grundrhythmus in Klavier und Bass auf, um dann vom plötzlich einsetzenden Thema mit Bandeon und Violine nahezu exaltiert übersteigert zu werden.

Schließen wir mit Borges: ‘Andre Glut gibt es, eine andre helle / Rose aus Asche, die sie aufbewahrt; / dort sind die hochmütigen Messerhelden / und die Gewichtigkeit der stummen Dolche.’ Denn in der Tat – Tango ist Metaphysik.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





Florian Wetter Kritik von Florian Wetter,


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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Piazzolla, Astor: Libertango

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Spielzeit:
Aufnahmejahr:
aeon
1
01.03.2009
64:10
2004
Medium:
EAN:
BestellNr.:

CD
3760058364246
AECD 0424


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Piazzolla, Astor


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aeon

Äon bedeutet im Altgriechischen soviel wie Zeitalter bzw. Ewigkeit. Wenngleich letztendlich keine Aufnahme für die Ewigkeit sein kann, so kann sie doch zumindest Gültigkeit für ein Zeitalter oder Menschenalter beanspruchen. Diesem nicht geringen Anspruch versucht man bei AEON mit bereits fast hundert Titeln gerecht zu werden. Für seine Einlösung spricht, dass das Label seit seiner Gründung 2001 schnell zu einer der ersten Adressen aus Frankreich wurde. Den Labelgründern Damien und Kaisa Pousset ist es wichtig, einen Katalog zu schaffen, dessen einzelne Titel jeweils als ultimative Intention der beteiligten Musiker verstanden werden können. Künstler wie Alexandre Tharaud, Andreas Staier, Felicity Lott oder das Quatuor Ysaÿe haben hier Aufnahmen vorgelegt, die woanders so sicherlich nicht möglich gewesen wären. Der Katalog von AEON umfasst im Wesentlichen drei Hauptschwerpunkte: monographische CDs mit Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts, dann das breitere, klassische Repertoire, das durch ausgewählte Künstler und Ensembles bestritten wird, sowie die frühe Musik des Mittelalters.


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