
Saariaho: Reconnaissance - Choral Music - Helsinki Chamber Choir, Nils Schweckendiek
Epitaph
Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Erinnerung an Kaija Saariaho: Avancierte Chormusik, die subtil und ohne grelle Effekte das Reich ambitionierter Techniken auslotet. Der Helsinki Chamber Choir wird den Werken mit der Wirkung des Selbstverständlichen, Natürlichen gerecht.
Eine Platte mit Chormusik der finnischen Komponistin Kaija Saariaho wurde ungeplant zum Epitaph: Anfang Juni 2023 verstarb die Künstlerin an einer Hirntumorerkrankung; sie hatte zuvor die Entstehung der unter dem Titel ‚Reconnaissance‘ beim Label BIS erschienenen und vom Helsinki Chamber Choir und seinem Leiter Nils Schweckendiek eingesungenen Platte begleitet und eigene Texte für das Booklet beigesteuert. Nun hört man die Produktion gewiss auch beklommen, jedenfalls als Vermächtnis von Kaija Saariaho, mit Blick auf die chorischen und Ensemblemöglichkeiten der menschlichen Stimme, über den Chor auch in einer fruchtbaren Rückbindung Saariahos, die seit langer Zeit in Frankreich lebte, an ihre finnische Heimat.
Es sind Werke verschiedener Dimension versammelt, die zwischen 1991 und 2020 entstanden sind, teils in intensiven Austausch mit elektronischen Anteilen gebracht. Den Beginn markiert ‚Nuits, adieux‘, das auf Texte von Jacques Roubaud und Honoré de Balzac zarte Klanggespinste hören lässt, gesungen, geatmet, geflüstert, geseufzt, dazu elektronisch subtil überformt und zu immer neuer Konstellation gebracht. ‚Horloge, tais-toi!‘ von 2005 geht wort- und klangspielerisch vor, rhythmisch akzentuiert, dazu mit einem intensiv eingewobenen Klavierpart. ‚Écho!‘ aus dem Jahr 2007 ist Frucht erneuter Beschäftigung mit dem Werk ihres Lehrers Olivier Messiaen und älteren Motetten von Claudin Le Jeune – Ergebnis ist ein rundum eigenständiges, affektstarkes Stück, das behutsam elektronisch geweitet und verlebendigt wird, natürlich mit Echo-Effekten. Dem Jahr 2001 sind zwei weitere Kompositionen zuzuordnen: Zunächst der viersätzige Zyklus ‚Tag des Jahres‘ auf Gedichte von Friedrich Hölderlin, von Saariaho selbst als ‚archaischer Chorsatz‘ bezeichnet und tatsächlich streng, jedenfalls voller Ordnung in der Anmutung, zugleich bereichert um Naturklänge wie den Gesang von Vögeln oder das Rauschen des Windes. Das zweite Stück dieses Jahrgangs ist das knappe ‚Überzeugung‘ für drei Sängerinnen, Crotales, Violine und Violoncello, entstanden im Auftrag der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Salzburger Festspiele zum Abschied des Intendanten Gerard Mortier, auch hier übrigens auf einen Text von Hölderlin. Das titelgebende ‚Reconnaissance‘ entstammt dem Jahr 2020 und wird im Booklet von Saariahos Sohn Aleksi Barrière als ‚Science-Fiction-Madrigal‘ bezeichnet, das einerseits an die Kunst der Franko-Flamen anknüpft und sie mit Betrachtungen zu Lebensmöglichkeiten auf dem Mars konfrontiert. Barrière hat die Textvorlage für dieses kühne Konstrukt mit seinem eigenwilligen Klangsinn geschaffen. Schließlich ist am Schluss noch einmal ‚Nuits, adieux‘ zu hören, allerdings in der 1996 entstandenen A-cappella-Version: Diese ‚Übersetzung‘ ins rein Vokale ahmt elektronische Effekte nicht nach, forscht ernsthaft nach dem erweiterten Potenzial der menschlichen Stimme. Dieser Beitrag macht konzentriert das Spannungsfeld auf, in dem sich avancierte Chormusik gegenwärtig bewegt.
Versatiler Kammerchor
Der Helsinki Chamber Choir, 1962 als Kammerchor des finnischen Rundfunks gegründet, ist ein Ensemble, das in seiner bisherigen Diskografie neben dem klassischen Kammerchorrepertoire vernehmlich der skandinavischen Moderne verpflichtet ist, etwa in Gestalt von Einojuhani Rautavaara oder Magnus Lindberg. Auch bei Kaija Saariaho wird der Chor ohne hörbare Mühen allen Sätteln gerecht – in klassischen Parametern, soweit in den Kompositionen herangezogen und gefordert, dazu in allen Aspekten weitergehender Erkundungen und Erprobungen menschlicher Vokalität. Die Register sind klar und gestaltreich durchgebildet, dabei nicht unmäßig gehärtet, was dem Ensembleklang etwas Geschmeidiges, in der Tongebung Kluges gibt. Auch in der Höhe bleiben die Soprane lyrisch, die Bässe sind in der Tiefe bei aller Schwärze samten. Die Intonation ist – notwendigerweise – perfekt, ausgewogen, sicher. Das formale Besteck wird gleichermaßen in tatsächlich gesanglicher Geste wie in den avancierten Vokaltechniken sicher beherrscht – bei aller Klasse des Ensembles in der Wirkung nicht verkünstelt. Das gesamte Repertoire ambitionierter Chormusik wird bedient, von scharf konturierter, bis zum Cluster reichender Akkordik über jäh abgerissene Linien, einen beinahe stillstehenden, flächigen Lyrismus bis zu geräuschhaften Emanationen: Alles wird selbstbewusst mit künstlerischer Substanz versehen.
Die Dimension der Tempi ist oft ruhevoll gehalten, Entfaltung vollzieht sich in beinahe metrischem Stillstand – in heftigem Kontrast dazu stehen einzelne Sätze, die drängend, pointiert sind. Dynamisch wird fast ausschließlich – auch in aufgefächerter Elektronik – das Feine, klug Ausgeleuchtete gesucht; Steigerungen sind organisch und zwingend in ihrer Anlage. Instrumental wird das kongenial mitgetragen: In scharf artikulierten, strukturklaren Beiträgen, auch hauchfein gesetzten Elementen, in ‚Recannoissance‘ mit reichen Impulsen des Schlagwerks eine eigene Klangwelt formend. Beeindruckend ist die Subtilität, mit der elektronische Effekte eingesetzt werden, die Behutsamkeit – dazu die Schlüssigkeit: Nichts ist auf vordergründige Wirkungen, gar Knalleffekte hin konzipiert. Zur Entfaltung dieser Dimension trägt das Klangbild entscheidend bei, das ein Fest feinster Nuancen bietet, vor allem die Vokalstimmen in der heiklen Balance mit der mannigfaltigen Elektronik glänzend positioniert: Jede kompositorische Idee lässt sich hörend mitvollziehen.
Diese Produktion mit Chormusik von Kaija Saariaho wurde ungeplant zu einem Tombeau für eine große Komponistin. Zu hören ist avancierte Chormusik, die subtil und ohne grelle Effekte das Reich ambitionierter Techniken auslotet. Der Helsinki Chamber Choir wird den Werken mit der Wirkung des Selbstverständlichen, Natürlichen gerecht. Die große Zahl der Ersteinspielungen im Rahmen dieser Platte wirft die Frage nach der Verankerung in der Realität des tatsächlichen Konzert- und Aufnahmelebens auf: Denn natürlich braucht es für eine gelingende Deutung ein versatiles Profiensemble, was einer weiteren Verbreitung als natürliche Barriere im Wege steht. Umso lohnender die Begegnung, die diese Produktion möglich macht.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Saariaho: Reconnaissance - Choral Music: Helsinki Chamber Choir, Nils Schweckendiek |
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Label: Anzahl Medien: |
BIS Records 1 |
Medium:
EAN: |
CD SACD
7318599926629 |
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Saariaho, Kaija |
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BIS Records Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees. Mehr Info... |
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