
Telemann: Schwanengesang - La Stagione Frankfurt, Michael Schneider
Alterswerk
Label/Verlag: cpo
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Hochmotiviertes und -inspiriertes Telemann-Spiel ist zu erleben: Die aggregierte Expertise von La Stagione Frankfurt macht sich vielfach bezahlt. Michael Schneider und sein Ensemble bilden ganz sicher eine der wichtigsten Telemann-Konstellationen.
Was uns Michael Schneider und sein Ensemble La Stagione Frankfurt jetzt auf einer Doppel-CD beim Label cpo vorstellen, wird als ‚Schwanengesang‘ aus der Feder Georg Philipp Telemanns präsentiert, des Meisters fast aller kompositorischen Klassen, der bis ins hohe Alter ungemein produktiv war. Der Telemann-Forscher Wolfgang Hirschmann beschreibt jenes Konvolut T 6, um das es dabei geht, im ebenso kundigen wie umfassenden Bookletessay sehr genau: Beginnend mit der Auffindesituation durch den Musikaliensammler Georg Poelchau auf dem Turm der Domkirche zu Riga, wo Telemanns Enkel Georg Michael lange Jahre Dienst tat und wo er offenkundig auch Arbeiten seines Großvaters und Lehrers Georg Philipp aufbewahrte. Es ist auch für den versierten Fachmann nicht ganz leicht zu entwirren und verlässlich zu bestimmen, was da nun auf die Nachwelt gekommen ist – ein echter Zyklus, ein eher lose zusammenhängendes Konvolut oder ein nur pragmatisch zusammengefasster Notenstapel. Hirschmann arbeitet heraus, dass es sich ziemlich sicher um Gaben Telemanns handelt, die Ludwig VIII. Landgraf von Hessen-Darmstadt zugedacht waren.
Insgesamt sind es fünf große Ouvertüren sowie vier Divertimenti beziehungsweise Sinfonien – Übergänge und formale Grenzen sind, wie stets bei Telemann, durchaus fließend und stellen der ordnungswütigen Nachwelt noch immer Denkaufgaben. In jedem Fall prägen farbige, hochexpressive Einzelsätze das Bild, voller Charakter und Invention. Sie repräsentieren Telemanns kompositorische Vielfalt, sein waches Interesse für typische Nationalstile ebenso wie für diverse instrumentale Kombinationen. All das ist mit frischer Inspiration und der Gelassenheit des Alters ausgebreitet – handelt es sich doch in jedem Fall, trotz mancher Unklarheit im Detail, um Arbeiten der letzten Lebensjahre Telemanns. Wolfgang Hirschmann kommt nach reiflicher Diskussion und Überlegung zu dem Schluss, dass die Stücke in T 6 eher zufällig zueinander gefügt sind; Georg Michael Telemann hat die Dinge, die ihm zusammenzugehören schienen, demnach einfach in einem gemeinsamen Umschlag aufbewahrt – also eher kein Mysterium eines tatsächlichen oder nachträglich zu konstruierenden Schwanengesangs. Michael Schneider, künstlerischer Leiter der Einspielung setzt hinter diese wissenschaftlich gewiss begründete Deutung aus Sicht des praktischen Musikers ein Fragezeichen: Telemann habe oft zyklisch gearbeitet, zudem habe die klingende Gesamtschau im Probenprozess und der Erarbeitung diese Wahrnehmung mit Blick auf die Sammlung noch einmal deutlich plausibilisiert. Möglich sei es, ‚…den Zyklus unter dem Thema ‚Glanz und Elend eines Fürstenlebens‘ (zu) subsumieren‘. Schneider räumt ein, dass die Reihung spekulativ bleibt. Für das Musizieren ganz offensichtlich und für das Hören möglicherweise ebenso scheint dieser Zugang zur Inspiration beizutragen – warum also nicht.
Enorme Expertise
Das Instrumentalensemble La Stagione Frankfurt ist ein hochversiertes und gerade im ‚Telemann-Fach‘ erfahrenes, mithin auch in dieser Einspielung traumwandlerisch stilsicheres Ensemble, getragen von einer hochmusikantischen Kraft, unbändigem Gestaltungswillen und der Fähigkeit zur feinen, bewusst gesetzten Differenz. In je nach Anforderung verschiedenen Besetzungen, die neben dem Standard bis zu Hörnern, Trompeten und Pauken reichen, wird alles realisiert, was im instrumentalen Bereich jener Epoche möglich und geboten war. Eine Fülle feiner Einzelleistungen mit quasi obligatem Charakter prägen das Ganze entscheidend mit – etwa die stupend qualitätvolle Traversflöte von Karl Kaiser. In etlichen der Sätze wird technisch brillante, virtuose Rasanz entfaltet – individuell und in der Gruppe substantiiert. Zugleich bekommen die linearen und Stimmungsqualitäten manch langsamen Satzes dezidiert Raum, je ohne sentimentalen Nachdruck.
Michael Schneider gestaltet in Sachen Tempi eine enorme Bandbreite, die von allergrößter Rasanz bis zur stillen, verinnerlichten Welt manch edler Plainte reichen; das Ensemble macht diese Sphäre maximal fruchtbar. Mit Blick auf die Varianz der Klangstärke werden die Möglichkeiten der ebenso reichen wie farbigen Besetzungen entschlossen genutzt, in interpretatorisch berückend schönen Klanggestalten. Intoniert wird makellos, federnd-elastisch, alles wirkt auf den Punkt musiziert, einschließlich instrumentenspezifischer Eigenheiten. Dieser positive Befund setzt sich nahtlos in das Reich der Artikulation fort: Auch hier verrät das Ergebnis dezidierte Arbeit, oft kleinteilig und rhythmisch pointiert gehalten, voller kultivierter Energie. Dann wieder, von dieser Sphäre deutlich abgesetzt, entfaltet sich eine fein empfundene lyrische Ebene, die linearer Entfaltung üppig Raum gibt Das Klangbild ist plastisch und räumlich nobel, dabei präzis im Abbild der Stimmen. Die drei verschiedenen Aufnahmeorte werden nur in minimalen Differenzen am Übergang der Werke kenntlich; der Gesamteindruck bleibt kontinuierlich.
Hochmotiviertes und -inspiriertes Telemann-Spiel ist zu erleben: Die aggregierte Expertise von La Stagione Frankfurt macht sich vielfach bezahlt. Geformt werden präzis gefasste Satzcharaktere, die neben Telemanns rein musikalischen Qualitäten vor allem seinen wachen Geist, seinen Witz zur Geltung kommen lassen. Michael Schneider und sein Ensemble bilden ganz sicher eine der wichtigsten Telemann-Konstellationen der Gegenwart und lassen mit diesen Doppel-Album keine Wünsche offen – ob es sich nun tatsächlich um einen Zyklus handelt oder nicht.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Telemann: Schwanengesang: La Stagione Frankfurt, Michael Schneider |
|||
Label: Anzahl Medien: |
cpo 1 |
Medium:
EAN: |
CD
761203553327 |
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Telemann, Georg Philipp |
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cpo Wohl kaum ein zweites Label hat in letzter Zeit soviel internationale Aufmerksamkeit erregt wie cpo. Die Fachwelt rühmt einhellig eine überzeugende Repertoirekonzeption, die auf hohem künstlerischen Niveau verwirklicht wird und in den Booklets eine geradezu beispielhafte Dokumentation erfährt. Der Höhepunkt dieser allgemeinen Anerkennung war sicherlich die Verleihung des "Cannes Classical Award" für das beste Label (weltweit!) auf der MIDEM im Januar 1995 und gerade wurde cpo der niedersächsische Musikpreis 2003 in "Würdigung der schöpferischen Leistungen" zuerkannt.
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