
Neeme Järvi in Concert - State Choir Latvija, Estonian National Symphony Orchestra
60-jähriges Dirigierjubiläum
Label/Verlag: Chandos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
1963 wurde der mittlerweile 85-jährige Neeme Järvi musikalischer Leiter des Eesti Riiklik Sümfooniaorkester.
Neeme Järvi kann auf eine unüberschaubar umfangreiche Diskografie zurückblicken. Nachdem er 1980 in die USA emigriert war, erschien seine erste Veröffentlichung beim englischen Label Chandos, gefolgt von den Plattenfirmen BIS, Deutsche Grammophon, Orfeo, Naxos, LPO und RCA. Chandos blieb so etwas wie sein Hauslabel, auch noch in den vergangen Jahren neben den Estonian Record Productions, bei denen er seit 2015 vermehrt CD-Veröffentlichungen vorgelegt hat. Die vorliegende CD, die Livemitschnitte des Jahres 2019 aus Tallinn enthält, erkundet ausschließlich Komponisten des deutschsprachigen Raums.
Järvis Mozart-Diskografie ist vergleichsweise überschaubar – sein Desinteresse an nicht hinreichend begründeten Einspielungen von althergebrachten ‚Schlachtrössern‘ zeugt von seiner fast unersättlichen Neugier und seiner Bereitschaft, um der Sache willen auf Popularität (im negativ gemeinten Sinn) zu verzichten. Schon 1974 hatte Järvi bei Melodija ein Mozart-Klavierkonzert veröffentlicht – mit eben jenem Orchester, das wir auch hier hören (diese Reihe setzte er in den 2010er-Jahren fort). Dass er hier das späte ‚Ave verum corpus‘ dirigiert, in einer ausgesprochen intim-introvierten Wiedergabe von hoher Suggestionskraft, ist Bekenntnis und Verweigerung zugleich – gerade als Dirigent von Chorsymphonik hat er sich nur bedingt auf Tonträger profiliert – und auch hier nicht selten mit überraschendem Repertoire.
Tief empfunden
Brahms war ein weiterer Komponist, der Järvi besonders nahe steht. Wir finden bei Chandos sämtliche Sinfonien und Konzerte, auch die Ungarischen Tänze, in jüngeren Jahren bei den Estonian Record Productions einen umfänglichen zweiten Brahms-Zyklus, und das Deutsche Requiem ist auf DVD greifbar. Hier nun also das Schicksalslied, in einer tief empfundenen, dennoch dramatisch starken Darbietung mit ausgesprochen flüssigen Tempi (warum es dann auf drei Tracks splitten?). Zwar ist der Klang nicht immer scharf umrissen, das schadet der Musik hier aber kaum. Auch dass der State Choir Latvija die deutsche Sprache hörbar einstudiert hat und nicht wirklich versteht, beeinträchtigt den bewegenden Gesamteindruck nicht. Järvi spreizt die Tempi an einigen Stellen ungewöhnlich, doch nicht über Gebühr.
Als Dirigent, der sich fast vollständig der Opernbühne verweigerte (es gibt einige Rundfunkproduktionen aus dem Studio), hat Järvi sich fast nur durch symphonische Auszüge aus den Musikdramen mit der Musik Richard Wagners auseinandergesetzt. Hier erklingt die Ouvertüre ‚Polonia‘, gerade in Järvis Wiedergabe der Ouvertüre zum ‚Liebesverbot‘ nicht fern. Wir hören hier nicht nur den frühen Wagner, sondern auch die Operntradition der 1830er-Jahre mit besonderer Bedeutung der französischen Bühne (Auber).
Bei Chandos hatte Järvi 1989 die Hiller-Variationen und die Böcklin-Suite veröffentlicht, dazu 1990 die Beethoven-Variationen. Keine dieser Einspielungen konnte in der internationalen Reger-Diskografie einen vorderen Rang erreichen. Gleiches gilt für die Serenade G-Dur op. 95, die in einer liebevoll ausgearbeiteten, aber Regers Intentionen ausgesprochen fernstehenden Wiedergabe. Järvi ignoriert bewusst zahllose von Regers detaillierten Aufführungsanweisungen und verortet den Oberpfälzer eher in Böhmen mit einem Hauch Brahms. Jeder, der eine der Einspielungen Eugen Jochums von 1943 oder 1976 gehört hat, kann Järvis Lesart als teilweise ausgesprochen verfehlt ansehen (mit am besten gelungen ist das Scherzo) – doch es sei nicht verhohlen, dass jede Neuveröffentlichung eines Reger-Orchesterwerks mit Freude willkommen geheißen werden sollte, gerade weil sie so ungebührlich selten erfolgen (jeder Orchesterpatzer, jede Fehleinschätzung des Dirigenten wird sofort wahrgenommen, doch zumeist dem Komponisten, nicht den Musikern angelastet).
Eine ausgesprochen persönliche Sichtweise legt Järvi hier also bei den vier aus durchaus ganz unterschiedlichen Werken an den Tag – spannende Ergänzungen einer Diskografie, die detaillierter zu überschauen eine beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen wird – weit mehr aber noch das, was von dem mittlerweile 85-Jährigen auf Tonträger vorgelegt worden ist (und die Rundfunkarchive bergen noch viele weitere Schätze, da darf man gewiss sein).
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Neeme Järvi in Concert: State Choir Latvija, Estonian National Symphony Orchestra |
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Label: Anzahl Medien: |
Chandos 1 |
Medium:
EAN: |
CD
095115226223 |
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Brahms, Johannes |
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Chandos Chandos Records was founded in 1979 by Brian Couzens and quickly established itself as one of the world's leading classical labels. Prior to forming the label, Brian Couzens, along with his son Ralph, worked for 8 years running a mobile recording unit recording for major labels (including RCA, Polydor, CFP, etc.) with many of the world's leading artists.
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