
Christus das Kind - Kantorei Barmen-Gemarke, Sinfonieorchester Wuppertal, Alexander Lüken
Auftakt zu einer Trilogie
Label/Verlag: ARS Produktion
Detailinformationen zum besprochenen Titel
'Christus das Kind' ist eine interessante Ausgrabung, die das Umfeld frühromantischer Oratorienliteratur verdeutlicht bzw. erst ins Blickfeld rückt. Ein 'Aha!'-Effekt stellt sich aber nicht ein.
Beim Label Ars Produktion kümmert man sich in der vorliegenden Neuerscheinung um vergessene Werke der deutschen Oratorientradition. Diese erfährt nämlich im frühen 19. Jahrhundert durchaus eine recht lebendige Fortsetzung, wird aber vom Operngeschehen der Zeit weitgehend überschattet. So ergeht es auch vielen Komponisten, die uns heute kaum noch ein Begriff sind – oder eben gar nicht. Um von Friedrich Schneider schon gehört zu haben, muss man sich schon sehr für das Randrepertoire des 19. Jahrhunderts interessieren oder aber man ist dem Namen in Verbindung zu seinem vermutlich berühmtesten Oratorium ‚Das Weltgericht‘ von 1819 begegnet, ein Werk, das vor wenigen Jahren wiederentdeckt und -belebt wurde. Friedrich Schneider hat als Organist, Komponist und Herzoglich-Anhalt-Dessauischer Hofkapellmeister zahlreiche Sakralkompositionen vorgelegt, darunter gleich 16 Oratorien, sowie beispielsweise 23 Symphonien und 7 Opern.
Abseits des 'Weltgerichts' wird aktuell seiner Oratorien-Trilogie um das Leben und Sterben Jesu (eigentlich als Tetralogie geplant) Aufmerksamkeit geschenkt. Das Sinfonieorchester Wuppertal mit seinem Dirigenten Alexander Lüken hat die Wiederaufführung des inhaltlich ersten Oratoriums dieser Trilogie im November 2021 initiiert: ‚Christus das Kind‘ aus dem Jahr 1829. Ars Produktion hat den Konzertmitschnitt auf einer randvollen SACD veröffentlicht und damit auch die Erwartung geweckt, dass in absehbarer Zeit ‚Christus der Meister‘ (1828) und ‚Christus der Erlöser‘ (1840) folgen werden.
Ansprechende Kontraste
Den Text für ‚Christus das Kind‘ hat der Gymnasiallehrer Johann Philipp Mayer in Schneiders Auftrag verfasst auf Basis des Lukas- und Matthäus-Evangeliums. Die drei Teile des rund 80-minütigen Oratoriums erzählen von der Verkündigung, der Geburt Jesu mit der Huldigung durch die heiligen drei Könige und schließlich die Flucht nach Ägypten mit finaler Rückkehr nach Israel. Eine wirkliche Handlung wird nicht entwickelt, man erlebt vielmehr in beobachtender Haltung inhaltlich wichtige Stationen und emotional grundierte Eindrücke der als bekannt vorausgesetzten 'Geschichte'. Dabei bilden die chorischen Passagen den größten Teil, aber auch vier Solostimmen kommen zum Einsatz, die ansprechende Kontraste und effektvolle Momente bieten.
Schneiders Musik gibt sich nicht allzu komplex, ist im besten Sinne 'Gebrauchsmusik', die ihre Zuhörerschaft emotional erreicht und in ihrer schlichten Melodik gewinnend sein möchte. Die Kantorei Barmen-Gemarke entwickelt mit Gästen und Mitgliedern des Jungen Kammerchores Köln einen wunderbar homogenen, harmonischen Gesamtklang. Musiziert wird mit hörbarer Andacht, aber auch mit einem Bemühen um mögliche Dramatik wie beispielsweise im Doppelchor am Ende des zweiten Teils. Dennoch bleibt die Interpretation im Gesamtbild eher brav und ungeschärft, was sich auch in der vernebelten Textverständlichkeit niederschlägt und dadurch die Kommunikationsfähigkeit des ohnehin schon dezidiert undramatischen Oratoriums weiter einschränkt.
Dieses Zurückdrängen des Textes bzw. des Inhalts hinter die Gesangslinie setzt sich auch beim Großteil des Solo-Quartetts fort. Die Sopranistin Dorothea Brandt singt ihre Soli mit betörender Schönheit, flötengleich und lupenrein in der Intonation. Was sie inhaltlich beiträgt, kann man aber viel zu oft nur erahnen. Das pure Klangideal dominiert auch bei der Mezzosopranistin Elvira Bill, die mit balsamischem Wohllaut und langem Atem rein stimmlich sehr gefällt. In den wenigen rezitativischen Passagen bessert sich dieser Umstand bei Bill, aber in den Arien oder auch im vokal herrlich abgemischten Terzettino mit Sopran und Tenor ‚Welch' ein Gruß!‘ kann nur noch der glücklicherweise vollständig abgedruckte Text im Beiheft helfen.
Feine Abstimmung
Auf der Herrenseite ist der Mitschnitt stärker besetzt. Santiago Sánchez erlaubt seinem lyrischen Tenor mit attraktivem Timbre erstaunlich viel opernhafte Leidenschaft. Emotional rangiert seine Interpretation an der Oberkante dessen, was stilistisch noch vertretbar erscheint, aber seine klare Diktion wiegt diesen Umstand wieder auf. Im Zusammenklang mit dem hervorragenden Bassisten Christoph Scheeben, gelingen die stärksten Momente der Einspielung. Scheeben verfügt über eine Stimme, deren klare Zuordnung zu einem Stimmfach schwer erscheint. Es ist alles da: eine freie Höhe, satte Tiefe und eine ausgeglichene Mittellage – manchmal klingt es fast tenoral, dann wieder bassig, all das mit erstaunlicher Leichtigkeit. Taufrisch mag Scheebens Stimme nicht mehr sein, aber in Sachen Musikalität und Verbindung von Wort und Ton ist er den Kolleginnen und Kollegen dieses Mitschnitts deutlich voraus. Das Terzett der Weisen aus dem Morgenland ist in seiner Lebendigkeit und feinen Abstimmung der Stimmen und des Orchesterklanges aufeinander dann auch einer der Höhepunkte der Aufnahme, bei der Elvira Bill sich mutig inspirieren lässt und mit ihrer Interpretation überzeugt. Das Sinfonieorchester Wuppertal unter Alexander Lüken unterstützt alle Mitwirkenden mehr als solide. Eigene Akzente oder Schärfungen sind nicht Teil der Lesart.
‚Christus das Kind‘ ist eine interessante Ausgrabung, die das Umfeld frühromantischer Oratorienliteratur verdeutlicht bzw. erst ins Blickfeld rückt. Friedrich Schneiders Komposition beschert jedoch heutigen Ohren, zumindest in der vorliegenden Art der Darbietung, keinen ‚Aha!‘-Effekt. Aus der Textfülle des Librettos hätten andere Komponisten vermutlich zwei Oratorien gefertigt, Schneider bevorzugt aber kurze Nummern und beständigen Wechsel der Besetzungen und Affekte. Das spräche durchaus für eine klare inhaltliche Ausrichtung der Interpretation. Wenn aber die Textverständlichkeit von Chor und Solisten so stark reduziert wird, wie das hier leider der Fall ist, dann erschwert es den Zugang zu diesem vergessenen Oratorium, so ambitioniert auch alle Beteiligten am Werk sein mögen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Christus das Kind: Kantorei Barmen-Gemarke, Sinfonieorchester Wuppertal, Alexander Lüken |
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Label: Anzahl Medien: |
ARS Produktion 1 |
Medium:
EAN: |
CD SACD
4260052383537 |
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Schneider, Friedrich |
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ARS Produktion Das exquisite Klassiklabel ARS Produktion wurde 1987 von Annette Schumacher mit dem Ziel gegründet, jungen, aufstrebenden Künstlern und interessanten Programmen gleichermaßen eine individuelle musikalische Heimat und entsprechende Marktchancen, u.a. durch internationalen Vertrieb und Vermarktung zu geben. Die bei Paul Meisen ausgebildete Konzertflötistin hat sich damit nach langer aktiver Musikerlaufbahn einen geschäftlichen Traum erfüllt.
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