
Liquid Turns - Estonian Philharmonic Chamber Choir, Kaspars Putnins
Ambitionierte Kühle
Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Ein Porträt mit herausfordernder Chormusik des Esten Ülo Krigul: Belohnt wird man mit Werken voller düsterer Kraft, in ästhetischer Anforderung, formuliert von einer individuellen kompositorischen Stimme.
Der estnische Komponist Ülo Krigul (geboren 1978 in Tallinn) war in der Saison 2019/20 Composer in Residence beim Estnischen Philharmonischen Kammerchor, was naturgemäß kreativen Output hervorgerufen hat, wie jetzt auf einer beim Label BIS erschienenen Platte nachzuhören ist. Drei der vier hier zu erlebenden Werke sind in dieser gemeinsamen Zeit von Komponist und Chor entstanden: ‚And the Sea arose‘ für Chor und Streicher – hier das fabelhafte Tallinn Chamber Orchestra –, dann ‚Aga vaata aina üles‘ (‚Aber schau immer nach oben‘) für Chor a cappella und schließlich das titelgebende ‚Liquid turns‘ für Chor und Elektronik als Zielpunkt.
Das einleitende ‚Vesi ise‘ (‚Wasser ist‘) fungiert tatsächlich als ein in das Idiom Kriguls einführendes Präludium: Entstanden 2015 für Chor und Elektronik, verwendet es die gesampelten Klänge großer Gongs als Basis, daraus sich lösend flächige chorische Emanationen – ruhig, aber ungemein spannungsreich. Der Text ist nach Kriguls eigener Auskunft eine klangpoetische Beigabe. Schon in diesem Stück wird ein fluides, von Übergängen geprägtes Geschehen erfahrbar, das weniger auf klar konturierte Gesten als vielmehr auf weniger fassliche, changierende Eindrücke setzt.
‚And the Sea arose‘ für Chor und Streicher hebt in einer langen Eingangsszene aus dem Nichts an, mit einzelnen Geräuschen, dem hörbaren Atem der Choristen, hinein in eine allmählich sich etablierende Klanglichkeit, die rau und wenig einschmeichelnd einen langsamen Weg zum expressiven, großen Chorklang findet, der sich im weiteren Verlauf weitet, gelegentlich zu erstaunlichen Höhepunktwirkungen geballt wird und schließlich – man könnte bei einer derart organischen Anlage sagen: erwartungsgemäß – in eine Phase des Verebbens eintritt. Das sechsteilige ‚Aga vaata aina üles‘ auf einen Text von Hedi Rosma, der wiederum auf einer Sammlung von Texten des estnischen Philosophen Uku Masing basiert, bietet als einzige a cappella-Komposition der Platte in seinem ersten Teil zunächst eine flächige, ineinandergreifende Akkordik auf Quint- und Oktavbasis, der jähe, dissonante Einwürfe entgegengesetzt werden. Dann entfaltet sich das Stück variantenreich, unter anderem mit dem Einsatz von Wiederholungen und Patterns – im Ergebnis steht das sicher an Substanz gehaltvollste, kompletteste Stück des Programms, mit großer Ambition und üppiger Herausforderung für den Chor. Das schlichte ‚Liquid turns‘ kombiniert Elemente der beiden vorangegangenen Werke – auch das in relativer Freiheit, zum Beispiel realisiert über die Interaktion zufällig sich begegnender Phrasen. Einigen Reiz üben die elektronisch eingefügten Geräusche von schmelzendem Eis und gefrierendem Wasser aus – Ülo Krigul wird auch darin als kreativer Mann der Kühle und des Nordens erfahrbar, dessen Prägungen sich gelungen in seinem Werk spiegeln.
Großartiger Chor
Der von Kaspars Putniņš souverän geleitete Estnische Philharmonische Kammerchor demonstriert sein großes Potenzial in vielerlei Hinsicht: Zunächst natürlich klassisch vokal mit prall geformten, geradezu idealtypisch klingenden Registern, dazu in sehnsuchtsvollen Vokalisen, aber auch summend und raunend, in abenteuerlichen Glissandi: Ülo Kriguls Musik ist immer Wagnis – technisch, intonatorisch, im Zusammenwirken, natürlich ästhetisch. Der Chor kann also nie ‚wie auf Schienen‘ singen, ist zu keinem Zeitpunkt in einer Komfortzone unterwegs. Und doch breiten die 27 Sängerinnen und Sänger sphärisch durchscheinende Akkordflächen ebenso souverän aus wie sie zerklüftete Passagen durchmessen oder dynamisch avancierte Gesten ganz selbstverständlich mit Leben erfüllen.
Kaspars Putniņš ordnet das Geschehen in einem sehr ruhigen Grundpuls, der gelegentlich von harschem Drängen kontrastiert wird. Insgesamt etabliert sich aber eine Szenerie gespannter Ruhe. Die durchmessene dynamische Bandbreite ist enorm – im engeren Sinne des Wortes: Sie reicht von gerade so substantiierter Stille zur eruptiven Schärfe. Die Kunst vollkommen klarer und unverstellter Intonation gehört generell zu den großen Stärken dieses Ensembles und wird auch bei Krigul expliziert, realisiert in erratischer Zerklüftung. Artikulatorisch lassen sich kaum klassische Chormuster ausmachen – allerdings ist die stupende Flexibilität und Sattelfestigkeit des Chors angesichts der Herausforderungen zu bewundern. Das technische Abbild des Geschehens ist in einem großen, generösen Raumklang realisiert, der die üppigen Wirkungen des Chors glücklich betont und keine der feinen Gesten verdeckt.
Ein Porträt mit herausfordernder Musik des Esten Ülo Krigul: Wer sich leicht verdauliche, sehnsuchtsvolle baltische Gefühligkeit erhofft, wird vermutlich weitgehend enttäuscht das Feld verlassen. Belohnt wird man aber mit Musik voller düsterer Kraft, in ästhetischer Anforderung, formuliert von einer individuellen kompositorischen Stimme. Dass sie den Weg in das breitere, einer allgemeinen Öffentlichkeit zugängliche Repertoire findet, scheint wenig wahrscheinlich: Zu hoch sind die Hürden ästhetischen Anspruchs. Vor allem: Zu sehr bedarf es zur glückenden Interpretation eines Ausnahmeensembles wie des Estnischen Philharmonischen Kammerchors.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Liquid Turns: Estonian Philharmonic Chamber Choir, Kaspars Putnins |
|||
Label: Anzahl Medien: |
BIS Records 1 |
Medium:
EAN: |
CD SACD
7318599925905 |
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BIS Records Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees. Mehr Info... |
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