
Neuwirth, Olga - Bählamms Fest
Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf
Label/Verlag: Kairos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Für Olga Neuwirth hat Musik nicht den Sinn ,einzulullen und gefügig zu machen'. Vielmehr soll die Musik als Mittler von Gedanken Anreiz und Unterstützung sein, ,das Gewohnte zu begreifen, das Herrschende zu überwinden und ins Unbekannte vorzustoßen'. Damit trifft Olga Neuwirth das Wesen aller Kunst. Der Mensch wird in die Welt hineingeboren. Gewohnheiten, Sprache, Traditionen, alles wird übernommen. Vieles hat längst seinen Sinn verloren, trotzdem hält man daran fest. Nur die wenigsten unserer Gewohnheiten und Handlungen sind uns bewusst, nur die wenigsten haben wir verstanden. Kunst entbirgt Wahrheit, und darum ist es die Aufgabe des Künstlers, die Welt zu öffnen.
Das Libretto für ,Bählamms Fest' schrieb Elfriede Jelinek nach Leonora Carringtons surrealistischem Theaterstück von 1940 ,Das Fest der Lämmer'. Die Familie, eigentlich ein Rückzugsgebiet von der Welt, ein Ort zu eigener Stärke zu gelangen, ist in ,Bählamms Fest' ein Ort der Enge und Unterdrückung. Surrealistisch ist hier vor allem die Überzeichnung des wölfischen Elements des Menschen. Schon der Familienname deutet es an, ,Carnis', eine Abwandlung von ,canis', lateinisch für ,Hund'. Die alte Dame, Mrs. Carnis, hat zwei Söhne, Philip und Jeremy. Jeremy ist halb wölfisch, Vater ist der Hund Henry. Robert, der Kammerdiener, trägt ein Hundefell zum Livree und verkörpert als ,Schäfer' eher einen Hirtenhund. Elisabeth und Theodora, die erste und zweite Frau Philips, finden ihr Vergnügen am Reißen von Lämmern. Theodora, die von Philip misshandelt wird, schließt sich verliebt Jeremy an, zieht mit ihm durch die Heide und überfällt mit ihm das Fest der Lämmer. Philip hetzt mit einer Meute Polizisten seinen Bruder Jeremy zu Tode. Hier sind die Menschen einander Wölfe, zerfleischen und bekämpfen einander, statt sich gemeinsam in der Entfaltung ihrer individuellen Besonderheiten zu unterstützen. Am Ende verstößt auch der Geist Jeremies Theodora, weil sie als lebendige seinem Wunsch, immer jung und schön zu bleiben, nicht entsprechen kann. Außerdem treten auf eine ertränkte Katze, ein blinder Kanarienvogel, ein gekochter Goldfisch, das Skelett einer Ratte, eine Spinne, ein Schafbock und eine Fledermaus.
Ein nicht unerheblicher Teil des Textes wird gesprochen. Der Gesang bezeichnet meist ein Übergleiten des Realen ins Surreale. Die Musik ist von gewaltiger bildlicher Kraft. Sie umgibt und zeichnet das Geschehen mit vielfältigsten surrealen Traumbildern, bei denen (wie im Traum) jeder Versuch eine Struktur zu erkennen scheitert. Der Instrumentalklang des solistisch gebrauchten Kammerorchesters verschmilzt einerseits mit den elektronischen Klängen wie andererseits die menschlichen Stimmen mit eigenen elektronischen Verfremdungen (z. B. als Klangmorphing) verschmelzen. Nie weiß man, was man hört, obwohl man es doch klarer nicht hören kann – eine gelungene Evokation einer surrealistischen Traumwelt. Wenn man beispielsweise die Bilder Salvatore Dalís oder Yves Tanguy zum Vergleich heranzieht: Olga Neuwirths Welt ist weit phantasievoller. Und trotz aller Vielfalt und des eher verschreckenden Geschehens vermittelt ,Bählamms Fest' eine gelassene Größe, wie sie etwa der Leser von Homer ,Illias' im größten Schlachtengetümmel erfährt.
Insofern kann zur Interpretation nicht viel gesagt werden, außer dass die Verschmelzung zwischen Instrumentalklang, menschlichen Stimmen und elektronisch erzeugten Klängen hervorragend gelungen ist und dies auf der vorliegenden CD trotz der Klanggewalt ohne Abstriche wiedergegeben wurde. Ein kleines Manko nur im ansonsten ausgezeichneten Booklet: der Text des Librettos stimmt oft nur sinngemäß mit dem inszenierten Text überein.
Für mich ist die vorliegende Einspielung der Uraufführung eine der wichtigsten und empfehlenswertesten Neuerscheinungen des letzten Jahres. Möge ,Bählamss Fest' doch auch ein Anlass für die Intendanten unserer Opern- und Konzerthäuser sein, einmal darüber nachzudenken, ob sie Musik-Museen oder Orte von gesellschaftlicher Bedeutung sein wollen.
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!
Ihre Meinung? Kommentieren Sie diesen Artikel
Jetzt einloggen, um zu kommentieren.
Sind Sie bei klassik.com noch nicht als Nutzer angemeldet, können Sie sich hier registrieren.
Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
![]() Cover vergrößern |
Neuwirth, Olga: Bählamms Fest |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: Spielzeit: Aufnahmejahr: Veröffentlichung: |
Kairos 2 19.11.2003 1:33:08 1999 2003 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
9120010280078 0012342KAI |
![]() Cover vergössern |
Neuwirth, Olga |
![]() Cover vergössern |
Kairos Der unwiderstehliche Klang der Neuen Musik. Mehr Info... |
![]() Cover vergössern |
Jetzt kaufen bei...![]() |
Weitere Besprechungen zum Label/Verlag Kairos:
-
Grandiose zeitgenössische Flötenmusik: Das Label Kairos legt eine überaus eindrucksvolle Einspielung mit Werken von Toshio Hosokawa vor. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
-
Klangliche Wahrnehmungstäuschungen: Das Label Kairos bietet Schlüsselwerke des polnischen Komponisten Marcin Stańczyk. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
-
Tönende Psychogramme: Das Label Kairos legt eine spannungsreiche CD mit Kammermusik von Márton Illés vor. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
Weitere CD-Besprechungen von Patrick Beck:
-
Quartett trifft Human Beatboxing: Zweite CD des polnischen Quartetts Kwartludium. Kwartludium spielt die hier vorgestellten Kompositionen genau, sorgfältig, mit viel Liebe, atmosphärisch und vor allem überaus lebendig. Weiter...
(Patrick Beck, )
-
Unsuk Chin wieder aufgelegt: Das Ensemble Intercontemporain spielt Werke von Unsuk Chin - auch in Wiederauflage eine tolle Aufnahme. Weiter...
(Patrick Beck, )
-
Edgar Varèse in Salzburg: Ein kostbares Dokument der Salzburger Festspiele 2009 mit Kompositionen Edgar Varèses. Weiter...
(Patrick Beck, )
Weitere Kritiken interessanter Labels:
-
Auf der Suche: Auch wenn seinem Liedgesang noch ein paar Schliffe gut anstünden, so ist dieser 'Schwanengesang' doch ein wohltuend schnörkelloses und ehrliches Album eines Künstlers, der mit Neugier und Mut auf der Suche ist. Weiter...
(Benjamin Künzel, )
-
Inspirierender Choral: Ein programmatisch interessanter, dazu interpretatorisch rundum gelungener Blick auf eine Spezialität geistlichen Repertoires um 1700. Christoph Hesse und L’arpa festante agieren erfrischend, qualitätvoll und kurzweilig. Weiter...
(Dr. Matthias Lange, )
-
Wenig wirklich Neues: Spannende Begegnung mit Anton Weberns Schubert-Lied-Instrumentationen. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
Portrait

"Schumann ist so tiefgreifend, dass er den Herzensgrund erreicht."
Die Pianistin Jimin-Oh Havenith im Gespräch mit klassik.com.
Sponsored Links
- klassik.com Radio
- Urlaub im Schwarzwald
- Neue Musikzeitung
- StageKit - Websites für Musiker, Veranstalter und Konzertagenturen
Hinweis:
Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers,
nicht aber unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Die Bewertung der klassik.com-Autoren:
Überragend
Sehr gut
Gut
Durchschnittlich
Unterdurchschnittlich