
Bruhns: Cantatas and Organ Works Vol.1 - Yale Inistitute of Sacred Music, Masaaki Suzuki
Aufmerksamkeit für Bach-Zufluss Bruhns?
Label/Verlag: BIS Records
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Gemessen an seiner geringen Bekanntheit über Organisten- und Historiker-Fachkreise hinaus ist Nicolaus Bruhns quantitativ wie qualitativ überraschend präsent auf Tonträgern. Mit Masaaki Suzuki stößt nun ein Superstar der Bach-Szene hinzu.
Hauptsächlich um Johann Sebastian Bach - seine Vokal-, aber auch Orgel- und Cembalowerke - hat sich Masaaki Suzuki, Gründer und Leiter des Bach Collegiums Japan - seit nunmehr fast 30 Jahren verdient gemacht. Dass sein Interesse nun auch dessen direkten Vorläufern, ja Vorbildern wie Dietrich Buxtehude (1637-1707) und dessen hauptsächlich in Husum wirkendem und leider jung verstorbenem Schüler Nicolaus Bruhns (1665-1697) gilt. Von Bruhns sind leider nur wenige Werke überliefert. Zum einen sind das zwölf zwischen sieben und fünfzehn Minuten dauernde, also eher kleinere Vokalwerke, die unter der Sammelbezeichnung "Kantate" einerseits "geistliche Konzerte" für ein bis zwei Vokalsolisten und Kammerbesetzung darstellen können (durchaus noch in der Tradition von Heinrich Schütz und Nachfolgern wie Buxtehude), andererseits aber auch Texte in unterschiedlich besetzten, kontrastierend instrumentalen, "motettischen" und solistischen Abschnitten präsentieren und damit den "Nummern"-Kantaten des 18. Jahrhunderts den Weg bereiten. Hinzu kommen fünf zum Teil in Abschriften von Johann Sebastian Bach und seinem Umfeld überlieferte Orgelwerke, die bereits in einigen "Gesamtaufnahmen" vorliegen; ein kurzes Adagio ist durch die Publikation eines Husumer Orgelbuchs von 1758 erst 2001 hinzugekommen. Die Idee, diese Orgel- und Vokalwerke zu mischen, findet sich zwar schon auf einer Veröffentlichung des Labels Tempéraments anlässlich des 300. Todestags von Bruhns 1997: Einer Gesamteinspielung der Orgelwerke durch Jan Willem Jansen (ohne Adagio, dafür mit "Nun komm der Heiden Heiland" in zwei differierenden Abschriften) sind hier allerdings einfach drei von Radio France anderweitig produzierte "Cantatas" beigegeben. Suzuki hingegen geht sein wohl auf zwei Folgen ausgerichtetes Bruhns-Projekt - Spielzeit der ersten SACD 86 Minuten! - fast schon akademisch mit Absolventen des Yale Institute of Sacred Music an und nutzt als Orgel-Solist die 2007 fertiggestellte "Krigbaum Organ" in der Maquand Chapel der Yale University.
Strukturbetonende Zurückhaltung an der Orgel
Dieses durchaus großformatiger angelegte Instrument kommt sehr direkt und präsent aufgenommen daher, aber fast schon etwas "kastig" und eher monochrom registriert. Suzuki hat für die erste Folge gleich die beiden umfangreichsten und eindrucksvollsten Werke ausgewählt: eine Version der Choralfantasie über "Nun komm der Heiden Heiland" und das "große" e-Moll-Präludium mit seinen zwei durch affekt- wie effektvolle Passagen kontrastreich umlagerten eingängigen Fugen. Dieses beeindruckende Werk, das in seinem an die d-Moll-Toccata BWV 565 gemahnenden Ausdrucksreichtum den Stand Buxtehudes bereits hinter sich lässt und noch zwei Jahrzehnte später dem jungen Orgelvirtuosen Johann Sebastian Bach zur Ehre gereicht hätte, findet sich für meinen Geschmack in Suzukis Registrierung nicht so mitreißend vermittelt wie in den farbiger und auch in der Tempowahl einleuchtender disponierten Einspielungen von Jansen und vor allem von Friedhelm Flamme (cpo SACD 2005). Dem etwas zu kompakten, sich vor allem dynamisch zu wenig entwickelnden Klang, den Instrument, Registrierung und Suzukis streckenweise zu zurückhaltende Tempi vermitteln, können auch einige aus meiner Sicht eher aufgesetzt wirkende agogische Forcierungen nicht die virtuose Eindringlichkeit und klangliche Größe verleihen, die aus anderen Darstellungen spricht. Der Choralbearbeitung bekommt hingegen Suzukis hier grundsätzliche Ruhe besser, indem die kontrapunktisch-strukturelle Gestaltung der Stimmführungen gerade in den mittleren Abschnitten schön hervortritt, obwohl ich auch hier Flammes farbigere Klangdramaturgie vorziehen würde.
Divergente Männerstimmen
Auch mit Blick auf die ausgewählten Vokalwerke - vier Solo-"Concerti" unterschiedlicher Bauart und zwei in klare Vers-Abschnitte gegliederte Werke für mehrere solistische Männerstimmen - fällt auf, wie unterschiedlich die Zugänge von Interpreten sein können: Das von Bruhns hinterlassene Feld ist hier schon gut bestellt worden mit der dreißig Jahre alten Pionieraufnahme aller Kantaten durch das Ricercar Consorts, der zehn Jahre jüngeren Referenz von Cantus Cölln (HMF) sowie einer 2016 bei Brilliant Classics erschienenen Gesamtaufnahme des von Claudio Astronio geleiteten Ensembles Harmonices Mundi, dessen Unterschiedlichkeit gegenüber Suzukis Zugang kaum größer sein könnte: Harmonices Mundi pflegen ein fast mediterran-madrigaleskes, gerade auch rhythmisch bestimmtes Gruppenbild, das die eher leichten Vokal-Stimmen in ein instrumental-konzertantes Kontinuum bettet, wie es etwa in der Konkurrenz von Solo-Violine und Gesangs-Bass des Concertos "Der Herr hat seinen Stuhl im Himmel bereitet" ausgestaltet wird. Dieses Stück wie auch "De profundis" als schwermütig-dramatischer Eingang in Suzukis Programm machen vor allem deutlich, dass Yale-Absolvent Paul Max Tipton zwar über eine in der Tiefe volltönende Stimme verfügt, die sich allerdings weniger mit dieser Musik und ihrem Ausdruck verbindet als die leichtere, weniger "schöne", aber sich besser in einen rhythmischen Fluss integrierende Vortragsweise von Christian Hilz bei Astronio. Tipton neigt - man muss es leider so sagen - oftmals zum Verschleppen sowohl in den ausgezierteren schnelleren Passagen der Stuhl-und Gotteslob-Arie als auch sogar im schon langsamen Tempo der eingängigen Psalm-Klage; musikalisch wie auch in der Wortgestaltung überzeugen mich alle drei Solo-Kantaten mit ihm überhaupt nicht und damit ein nicht geringer Teil dieser SACD. Die Tenöre, die in den anderen drei Vokalstücken beschäftigt sind, liefern hingegen überzeugendere Resultate: James Taylors spürbar aus sich heraus begeisterte Interpretation von "Jauchzet dem Herren alle Welt" ist aus meiner Sicht der absolute Höhepunkt dieser Produktion und reißt auch die bei Tipton manchmal etwas etwas lethargisch wirkenden Instrumentalisten spürbar mit. Ziemlich gemischte Gefühle also beim wiederholten Durchhören und nicht der Eindruck, dass hier eine neue Referenz entstanden ist - diesen Status darf man nur der ausgezeichneten Klangqualität und dem profunden Einführungstext von Markus Rathey im dreisprachigen Booklet zuschreiben.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Bruhns: Cantatas and Organ Works Vol.1: Yale Inistitute of Sacred Music, Masaaki Suzuki |
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Label: Anzahl Medien: |
BIS Records 1 |
Medium:
EAN: |
CD SACD
7318599922713 |
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Bruhns, Nicolaus |
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BIS Records Most record labels begin with a need to fill a niche. When Robert von Bahr founded BIS in 1973, he seems to have found any number of musical niches to fill. The first year's releases included music from the renaissance, Telemann on period instruments, Birgit Nilsson singing Sibelius and works by 29 living composers - Ligeti and Britten as well as Rautavaara and Sallinen - next to Purcell, Mussorgsky and Richard Strauss. A musical chameleon was born, a label that meant different things to different - and usually passionate - devotees. Mehr Info... |
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