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Dienstag, 26. September 2023

Lasso, Orlando di - Lagrime di San Pietro - Melancholia

Keine Krokodilstränen


Label/Verlag: Christophorus
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Wir mögen uns noch so viele Gedanken darüber machen, wie reuevoll und verzweifelt der Apostel Petrus gewesen sein muss, nachdem er Jesus wie prophezeit dreimal verleugnet und er sich somit unsagbar versündigt hat. Selbst die von Luigi Tansillo in höchst bilderreiche und tief emotionale Prosafragmente gefasste Leiden lassen uns so lange verhältnismäßig kalt, bis wir erst einmal deren Vertonung - 'Lagrime di San Pietro' - von Orlando di Lasso für siebenstimmigen a-capella Männerchor gehört haben. Sie allein scheinen das Vehikel zum uferlosen Tränenmeer zu sein.

Zwar ist musikwissenschaftlich leicht nachweisbar, dass der zweifellos bedeutendste Komponist der Renaissance sich eines reichen Repertoires musikalischer Figuren bedient hat, um Textinhalte und Symbole dem Ohr kunstvoll nahezubringen. Wirklich wahrnehmen können diese allerdings nur sehr erfahrene und kundige Hörer. Bei Orlando di Lasso (ca. 1532-1594) ist es unbestritten die eigene Passion, wenn nicht sogar völlige Identifikation mit Petrus, die er kurz vor seinem eigenen Tod auf dem Notenpapier festgehalten und die das Männerensemble 'Hofkapelle' unter der Leitung ihres Gründers Michael Procter für das Heidelberger Label CHRISTOPHORUS eingesungen hat - mit hörbar mindestens derselben Emphase wie der Komponist selbst sie auszudrücken meinte.

Kein Wunder, denn mit dem aus England stammenden Procter hat das aus erfahrenen internationalen Sängern bestehende Ensemble einen echten Spezialisten für geistliche Musik der Renaissance an ihrer Seite, wovon es seine Hörer auf zwei CD-Produktionen mit Motetten von Balduin Hoyoul und Heinrich Isaac bereits eindrücklich überzeugt hat. In der vorliegenden Aufnahme scheint Orlando di Lasso für Procter jedenfalls eine bunt blühende Spielwiese für sein musikalisches Feingespür gewesen zu sein. Indem er mit seinen Sängern intonatorisch und stimmlich porentief rein in die kleinsten Nuancen versinkt, in allen der 21 Strophen - Stimme für Stimme - die seelenreibenden Harmonien und Klangfarben auf den italienischen Worten herausarbeitet und dynamisch wie rhythmisch ein kluges, natürliches Verhältnis schafft, erfasst er genau den Geist, der in ihnen steckt: kein lautes, plakatives Rausschreien der Seelenplagen, sondern introvertierte, intensive und damit herzensgrundtiefe Reue. Eine Gemütsbewegung, die uns modernen, westlichen Menschen im Prinzip eher fremd ist und die wir vielleicht nicht auf Anhieb wirklich verstehen, geschweige denn mittels einer mehr als 400 Jahre alten Musik so ohne weiteres erfassen können. Von den betörenden Klängen jedoch ermutigt schälen sich uns nach und nach die verschiedenen Schichten heraus, welche unsere Ohren freimachen für die Schönheit dieser so reinen, lange noch nachschwingenden Musik.

Als gar nicht so fremd und fern dagegen - weder in den inhaltlichen noch den musikalischen Botschaften - erreichen uns die in 'Melancholia' zusammengefassten 13 Aphorismen, teils aus der Bibel vertonte lateinische Sprüche, die, wie der Name schon andeutet, Lebensweisheiten rund um die Vergänglichkeit des Lebens enthalten und eigentlich auch noch in der heutigen Zeit aktuellen und praktischen Wert haben. Ihre enorme Strahlkraft erreicht uns auch ohne Latein- oder tiefere Musikkenntnisse, genauer gesagt, benötigen wir diese gar nicht. Die fließenden, eingängigen Melodien lassen - obwohl sie eigentlich an diese adressiert sind - die Ratio völlig links liegen, bohren sich zielstrebig durch die überraschten Gehörgänge und verströmen ihre Wirkung gleichmäßig und nachhaltig im Herzen.

Auch wenn uns heute diese Musik nicht gerade wie 'gemacht für alle Lebenslagen' anmutet, so sind diese einfühlsamen Aufnahmen in jedem Fall ein sehr wertvolles Dokument über eines der beeindruckendsten Kompositionen der Musikgeschichte. Für wahre Freunde der geistlichen Renaissance-Musik oder Menschen mit entsprechend feinen Antennen wird sich wohl so schnell keine echte Alternative dazu auftun.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:






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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Lasso, Orlando di: Lagrime di San Pietro - Melancholia

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Spielzeit:
Aufnahmejahr:
Veröffentlichung:
Christophorus
1
01.11.2003
76:36
2001
2003
Medium:
EAN:
BestellNr.:

CD
4010072772558
CHR 77255


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Lasso, Orlando di


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Dirigent(en):Procter, Michael
Interpret(en):Ensemble Hofkapelle,


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Christophorus

Christophorus ist das älteste deutsche Plattenlabel mit dem Schwerpunkt "Geistliche Musik". Es wurde 1935 gegründet, um religiöse Inhalte mittels Schallplatten und Bücher auch während des Nazi-Regimes zu verbreiten. Heute - mehr als 75 Jahre später - stehen spirituelle Themen weiterhin im Mittelpunkt des Labels, mit besonderem Interesse für unbekannte Werke und historische Interpretation. Gregorianische Gesänge, geistliche Vokalmusik, Musik der christlichen Kirchen und die Gesänge aus Taizé sind im Katalog ebenso vertreten wie Musik des Mittelalters und der Renaissance. Mit diesem Repertoire gilt Christophorus heute als eines der wichtigsten unabhängigen Labels auf dem internationalen Klassikmarkt.


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