
J.S.Bach: Famous Cantatas Vol. 1 - Amsterdam Baroque Orchestra & Choir, Ton Koopman
Bach in Wiedervorlage
Label/Verlag: Challenge Classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Ist Koopmans Bach gut gealtert? Ja, im Grunde ist das so. In der Summe ergibt sich ein stimmiges Bild, das dieses Projekt im Vergleich zu früherer und späterer Konkurrenz gut bestehen lässt.
Vier Kantaten aus Johann Sebastian Bachs Mühlhäuser Zeit sind es, die das niederländische Label Channel Classics jetzt vorlegt. Und es sind ‚gute Bekannte‘ der Diskografie, entstanden 1994 im Zuge der damaligen Gesamteinspielung der Kantaten durch Ton Koopman und das Amsterdam Baroque Orchestra für Teldec. Neben einem möglichst unverstellten Blick auf diese Wiedervorlage ist die Frage von Interesse, ob Koopmans Bach gut gealtert ist: Immerhin sind fast drei Jahrzehnte Bach-Interpretation und mehrere große Kantatenprojekte – verantwortet von John Eliot Gardiner, Masaaki Suzuki, Sigiswald Kuijken oder aktuell Rudolf Lutz – ins Land gegangen und haben das Ohr der Hörerschaft erreicht.
Hier zu hören sind BWV 4 ‚Christ lag in Todesbanden‘, BWV 71 ‚Gott ist mein König‘, BWV 131 ‚Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir‘ und BWV 106 ‚Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit‘, der sogenannte ‚Actus tragicus. BWV 4 ist eine Osterkantate, vermutlich zur Bewerbung Bachs in Mühlhausen komponiert, ungemein streng in der Komposition der Lutherschen Choralstrophen, während BWV 71 eine Ratswahlkantate ist – eine Tradition, die auch in Bachs Leipziger Schaffen Raum bekommen sollte –, zugleich die einzige Kantate, die zu Bachs Lebzeiten gedruckt wurde, auf Veranlassung des Mühlhäuser Rates. BWV 131 ist für einen unbekannten Anlass entstanden, wurde aber offenbar von Georg Christian Eilmar auf der Basis von Psalm 130 für die Marienkirche in Mühlhausen beauftragt. Schließlich wird mit BWV 106 schlicht ein frühes Meisterwerk präsentiert, dessen illustrer Beiname – wie fast stets bei so griffigen Titeln – eine sehr viel spätere Zutat der Bach-Rezeption war. Es sind dies sämtlich zwar frühe Kantaten, doch weist Christoph Wolff in seinem Booklettext darauf hin, dass es alles andere als Musik im Werden sei, sondern Werke des schon damals im Kreis der bedeutendsten Kantatenkomponisten der Zeit befindlichen 22jährigen, der mit sicherer Hand disponierte und setzte – dessen Fertigkeiten und Stil sich in den nachfolgenden Lebensstationen weiter ausprägten und festigten.
Große Expertise
Ton Koopmans 19köpfiger Chor bildet klar konturierte Register, die sich zu einem leichten, lichtdurchfluteten Klang ohne jede Erdenschwere verstehen. Explosive Gesten wie im Eingangschor von BWV 71 und Momente konzentrierter Sammlung, beispielhaft am Beginn von BWV 131, machen Eindruck und umschreiben ein scharfes Profil. Dazu agiert der Chor erfreulich eloquent. Das in kammerorchestraler Dimension besetzte Amsterdam Baroque Orchestra erweist sich als versatiles Ensemble, agiert klangfreudig und hochbeweglich, ist rhythmisch auffallend präsent. Ton Koopman profiliert ungemein plastische Klanggestalten, integriert obligate Soli mit Delikatesse und subtiler Geste; der Basso continuo entfaltet oft geradezu perkussive Qualitäten.
Vokalsolistisch bietet die Platte Begegnungen mit prägenden Größen der Vergangenheit: Sopran singt Barbara Schlick, Altus Kai Wessel, Tenor Guy de Mey und Bass Klaus Mertens. Bei Barbara Schlick sind Technik, perfekte dynamische Kontrolle, fließende Übergänge der Register untadelig; ein fortdauerndes Beben der Stimme wirkt im Vergleich mit den heutigen Bach-Üblichkeiten eher gerader und instrumental geführter Soprane durchaus charmant, aber auch ein wenig aus der Zeit gefallen. Kai Wessel zeigt sich mit seiner feinen, federleichten Stimme und den ausgeprägten lyrischen Qualitäten in jenen Jahren in allerbester Verfassung, nimmt mit Schmelz und Technik für seine Präsentation ein. Lyrisch stark ist auch der belgische Tenor Guy de Mey, der sich mit einer angenehm mischfähigen Stimme einbringt, allerdings einer etwas zu weichen, gelegentlich gaumigen Tongebung einiges an Klarheit vermissen lässt. Schließlich zeigt sich Klaus Mertens in Hochform, mit einer Stimmautorität, die ihresgleichen sucht: Der Ton ist fantastisch gerundet und verströmt sich frei, stet und ungebrochen in allen Lagen; die Diktion ist hervorragend natürlich. Und in der Rückschau beeindruckt es zusätzlich, wie konstant Mertens bis in die Gegenwart auf einem vergleichbar hohen Niveau zur Zierde zahlloser weiterer Einspielungen und Konzerte werden konnte. Das Klangbild der im November und Dezember 1994 in der Amsterdamer Waalse Kerk entstandenen Aufnahme ist tadellos, reich strukturiert und gelungen balanciert, vielleicht etwas zu sehr die klingenden Höhenbezirke liebend.
Ist Koopmans Bach also gut gealtert? Ja, im Grunde ist das so. Natürlich ist die eine oder andere Eigenheit zu hören, doch bei welcher der Gesamteinspielungen wäre das anders? In der Summe ergibt sich ein stimmiges Bild, das dieses Projekt im Vergleich zu früherer und späterer Konkurrenz gut bestehen lässt. Ein Mühlhäuser Kantaten-Vierer, der sich auch heute und in Wiedervorlage lohnt.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!
Ihre Meinung? Kommentieren Sie diesen Artikel
Jetzt einloggen, um zu kommentieren.
Sind Sie bei klassik.com noch nicht als Nutzer angemeldet, können Sie sich hier registrieren.
Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
![]() Cover vergrößern |
J.S.Bach: Famous Cantatas Vol. 1: Amsterdam Baroque Orchestra & Choir, Ton Koopman |
|||
Label: Anzahl Medien: |
Challenge Classics 1 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
608917289725 CC 72897 |
![]() Cover vergössern |
Bach, Johann Sebastian |
![]() Cover vergössern |
"Bachs geistliche Musik, die vor seinem Wechsel nach Leipzig entstand, einschließlich aller Werke aus der Weimarer Zeit, wird oft als "frühe" Kantaten bezeichnet. Dies ist irreführend und letztlich ungenau, da Bach bereits 38 Jahre alt war, als er 1723 von seinem Posten als Kapellmeister in Köthen nach Leipzig wechselte, um sein Amt als Kantor an der Thomaskirche anzutreten. In der Tat stammen die meisten von Bachs Kirchenkantaten aus den Leipziger Jahren, ebenso wie die Konsolidierung der stilistischen, strukturellen und technischen Merkmale seiner Vokalwerke, aber selbst das vor 1714 komponierte Repertoire kann kaum als "früh" bezeichnet werden. Die in Mühlhausen entstandenen Werke, die eine auffallende Sicherheit in der Konzeption aufweisen, reihen den 22-Jährigen in die Reihe der besten zeitgenössischen Kantatenkomponisten ein. Bachs früheste Kirchenkantaten sind noch deutlich von den Traditionen des 17. Jahrhunderts geprägt. Jahrhunderts geprägt. Neben den Einflüssen älterer Mitglieder der Bach-Familie sind auch die von Buxtehude und Pachelbel d. Ä. sowie von italienischen und französischen Meistern in technischer, struktureller und stilistischer Hinsicht offensichtlich. Besonders charakteristisch für die Kantaten aus der Zeit vor Leipzig ist Bachs außergewöhnliche Experimentierfreudigkeit im Umgang mit den unterschiedlichsten Instrumenten, mit raffinierten Klangeffekten (z. B. dem Einsatz des Fagotts) sowie mit poly- und homophonen Setzungen und Formen." |
![]() Cover vergössern |
Challenge Classics CHALLENGE RECORDS ist eine unabhängige Schallplattenfirma, die ihren Sitz in den Niederlanden hat. Sie setzt sich aus einer Gruppe von Musikenthusiasten zusammen, die mit großer Leidenschaft für den Jazz und die Klassische Musik internationale Produktionen kreieren. Mehr Info... |
![]() Cover vergössern |
Jetzt kaufen bei... |
Weitere Besprechungen zum Label/Verlag Challenge Classics:
-
Von Seelenmalern und Lebensbildern: Christoph Prégardien, Michael Gees und Andreas Staier zelebrieren Schubertsche Liederzyklen. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
-
Kairos der Fugenwerke: Alberto Rasi und die Accademia Strumentale Italiana präsentieren das Autograph der "Kunst der Fuga" von J. S. Bach. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
-
Familienbild: Die Platte des Elbipolis Barockorchesters Hamburg bringt zeitlich und ästhetisch verschiedene Teile der Bach-Familie im 18. Jahrhundert in Austausch - weniger systematisch, eher in Gestalt eines Schlaglichts. Weiter...
(Dr. Matthias Lange, )
Weitere CD-Besprechungen von Dr. Matthias Lange:
-
Rückübertragung: Was für ein Debüt – programmatisch relevant und interpretatorisch gekonnt leuchten Giulio De Nardo und sein Ensemble Sestier Armonico Bachs italienische Verbindungen aus, in einer Art transitorischer Rückübertragung. Weiter...
(Dr. Matthias Lange, )
-
Komplexe Kunst: Verlässlich bringt das Orlando Consort wie hier mit Machaut ferne Musik ans Ohr der Gegenwart und lässt sie ebenso regelmäßig auf erstaunliche Weise bei aller Komplexität frisch, relevant und dringlich klingen. Weiter...
(Dr. Matthias Lange, )
-
Eleganter Passions-Ton: Johann Heinrich Rolles in dessen Lukas-Passion vorgestelltes Idiom entfaltet sich bei Michael Alexander Willens pointiert, in einem ästhetisch zum Zeitpunkt der Entstehung nach vorn gewandten Zug. Weiter...
(Dr. Matthias Lange, )
Weitere Kritiken interessanter Labels:
-
Kollaboratives Komponieren: Das Label Kairos präsentiert facettenreiche Ensemblemusik des schwedischen Komponisten Jesper Nordin. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
-
Klangprächtig: Ein äußerst ansprechendes Plädoyer für die Musik Friedrich Gernsheims. Weiter...
(Dr. Jürgen Schaarwächter, )
-
Hoher Abstraktionsgrad: Marco Fusi beeindruckt mit Violin-'Werken' Giacinto Scelsis. Weiter...
(Dr. Kai Marius Schabram, )
Jetzt im klassik.com Radio


Portrait

"Schumann ist so tiefgreifend, dass er den Herzensgrund erreicht."
Die Pianistin Jimin-Oh Havenith im Gespräch mit klassik.com.
Sponsored Links
- Opernreisen und Musikreisen bei klassikreisen.de
- Konzertpublikum
- Musikunterricht
- klassik.com Radio
- Urlaub im Schwarzwald
- Neue Musikzeitung
- StageKit - Websites für Musiker, Veranstalter und Konzertagenturen
Hinweis:
Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers,
nicht aber unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Die Bewertung der klassik.com-Autoren:
Überragend
Sehr gut
Gut
Durchschnittlich
Unterdurchschnittlich