
Tremor - Barbara Barradas, Ensemble Darcos
Erdbeben-Trauma in expressiven Klängen
Label/Verlag: ARS Produktion
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Nuno Côrte-Real wendet sich von der Radikalität der Avantgarde des 20. Jahrhunderts ab, um in einem Liederzyklus ein Trauma zu reflektieren, das Menschen nach einem Erdbeben über Generationen hinweg nicht mehr loslässt.
Zerstörte Häuser. Alles, was Auskommen und Sicherheit garantiert, vernichtet. Das Erdbeben im Grenzgebiet der Türkei-Syrien führt schmerzlich vor Augen, was es heißt, durch Naturgewalten alles zu verlieren. So geschehen auch am 1. November 1755. Ein Erdbeben vernichtete Lissabon. Diese Katastrophe kostete nicht nur zehntausenden Menschen das Leben, sondern entzog allen Gewissheiten den Boden. Grundlegende Fragen der Existenz stellten sich neu und zogen tiefgehende theologische und philosophische Reflexionen nach sich, die sich auch in der Literatur und Kunst abbildeten. Das dauert bis in die Gegenwart.
„Tremor“ von Nuno Côrte-Real zählt zu den jüngsten Auseinandersetzungen mit diesem Ereignis. „Tremor“ steht für Erschütterung des Individuums wie der Weltordnung, ein Trauma, das sich tief eingräbt. In 15 Liedern für eine Frauenstimme mit Vokalquartett und kammermusikalischer Instrumentalbegleitung begibt sich Côrte-Real auf das Gebiet des Abstrakten. Im Zentrum seiner expressiven Klangereignisse stehen Angst, Erschütterung und Zorn und ein Leben mit der Katastrophe. Der portugiesische Dichter Pedro Mexia verfasste für „Tremor“ 15 Gedichte. Im Konglomerat aus philosophischen und religiösen Lehren und Weltanschauungen beschreibt er ein neues Weltbild, das Erlösung in Aussicht stellt. Was die Gedichte eint, ist die Tatsache der Zustandsbeschreibung menschlicher Erfahrung im Zustand existentieller Not.
Nuno Côrte-Real zählt zu jener bedeutenden Generation zeitgenössischer portugiesischer Komponisten, die sich bewusst von der Radikalität der Avantgarde und ihrem Diktat zum antitraditionellen Kunstverständnis abwenden. Sein Verständnis zeitgenössischer Musik erweist sich als eine Symbiose unterschiedlicher Musiktraditionen und Musikstile. Neoklassizismus und Neoromantik trifft auf Pop und Jazzelemente. Traditionelle Weisen durchweben seine Klangbilder, die in jeder Ausprägung emotional expressiv sind.
Fragen existenzieller Natur
Unverkennbar favorisiert er lyrische Melodien und rhythmisch intendierte energetische Kraft mit dem Hang zur Theatralik. Stilbrüche sind seine Stilmittel, mustergültig umgesetzt in der Nr. 6 „Labaredas“. Hinzu gesellt sich ein Eklektizismus, der latent scheint und in Verbindung mit dem Synkretismus in den Texten einen Wandlungsprozess der Wahrnehmung in Gang setzt. Das Ereignis Erdbeben löst sich von seinem konkreten Bezug. Fragen existenzieller Natur bestimmen eine Dramaturgie ohne Anfang und Ende. Jedes Lied steht für sich.
Nahtlos fügen sich Bearbeitungen bekannter Vorlagen in diese Originalkompositionen. Für Nr. 5 „Actus Tragicus“ und Nr. 14 „Aus Liebe“ griff Côrte-Real auf Johann Sebastian Bach zurück. Nr. 8 „Glória do mundo“ ist eine Adaption auf den Mittelteil aus Frederic Chopins Regentropfen-Prélude, eine trauermarschähnliche Passage, der er in seiner Bearbeitung eine zwingend szenische Aussagekraft verleiht. Hier wie in den weiteren Liedern versteht sich Côrte-Real auf eine stark suggestive, bildhafte Klangsprache.
Mitreißend setzen die Ausführenden dies um. Mühelos geschmeidig wie expressiv gestaltet die Koloratursopranistin Bárbara Barradas ihre opernhaften Partien, natürlich gelingen ihr die volksliedhaften Passagen. Das Ensemble Darcos zeigt sich wandlungsfähig. Das Streichquartett mit Gael Rassart, Paula Carneiro, Reyes Gallardo und Filipe Quaresma erzeugen orchestrale Dichte, an der Seite Nuno Inacio auf der Flöte, Paulo Guerreiro, Horn und Pedro Wallenstein am Kontrabass. Helder Marques beherrscht seinen Part auf dem Klavier als Liedbegleiter wie als perkussiver Klanggestalter. Großartig gelingt die Abstimmung zwischen Beatriz Cortesáo an der Harfe und Ana Luisa Monteiro am Synthesizer, um nahtlose Übergänge hin zu wabernden Klanggebilden zu gestalten. In Nr. 11 „Os ultimos“ beschwört der Perkussionist Marco Fernandes im Verbund mit dem Vokalensemble, das den Text flüsternd skandiert, archaische Riten. Einfühlsam gestaltet Miguel Amaral auf der portugiesischen Gitarre das Solo in Nr. 13 „Lacrimosa“.
Ein ausführliches Booklet ist zunehmend selten, aber hier mit größter Sorgfalt ausgeführt. Dreisprachig in Portugiesisch, Deutsch und Englisch gibt es Erläuterungen zu Werk, Komponist, Ausführende sowie die Liedtexte mit Übersetzungen. Wer „Tremor“ wagt, mag ein anderes Trauma als das eines Erdbebens überwinden. Neue Musik, zeitgenössische Musik, Gegenwartsmusik oder schlichtweg die Avantgarde des 21. Jahrhunderts begibt sich auf den Gegenkurs zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Jetzt darf, ja muss harmonisch komponiert werden, nur komplexer, weil als Ergebnis vielfacher vorhandener Stilmittel und Techniken, die Nuno Côrte-Real gezielt einzusetzen versteht, um Expressivität im höchsten Maße freizusetzen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Tremor: Barbara Barradas, Ensemble Darcos |
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Label: Anzahl Medien: |
ARS Produktion 1 |
Medium:
EAN: |
CD SACD
4260052383346 |
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