
Leipzig 1723 - Stefan Temmingh, Capricornus Consort Basel
Netzwerke
Label/Verlag: Accent
Detailinformationen zum besprochenen Titel
'Leipzig 1723' ist eher Schlagwort und bietet den Anlass, auf einen sehr viel größeren Kontext zu schauen: Stefan Temmingh und das Capricornus Consort Basel mit einem Programm voller hochlebendiger Musikgeschichte.
Der Titel der aktuell bei Accent erschienenen neuen Platte des Blockflötisten Stefan Temmingh suggeriert eine Art Zusammenprall: ‚Leipzig 1723‘ führt Werke einiger derjenigen Komponisten zusammen, die nach dem Tod Johann Kuhnaus mehr oder weniger ernsthaft für dessen Nachfolge im Thomaskantorat in Frage kamen oder tatsächlich Schritte in diese Richtung unternahmen – neben dem schließlich vom Leipziger Rat bestallten Johann Sebastian Bach auch Georg Philipp Telemann, Christoph Graupner und Johann Friedrich Fasch. Dabei trafen die vier in der Angelegenheit nur sehr mittelbar aufeinander, als direkte Konkurrenten im Sinne eines Aufeinanderprallens in einer klar abgegrenzten historischen Situation sind sie kaum anzusprechen. Und erbittert oder feindselig war unter ihnen schon rein gar nichts: Sehr viel stärker prägend sind – in naturgemäß unterschiedlicher Ausprägung – gegenseitiger kollegialer Respekt, ja freundschaftliche Verbundenheit, im Falle Telemanns und Bachs bei dessen Sohn Carl Philipp Emanuel gar Patenschaft. Es steht also weniger ein punktuelles Ereignis im Mittelpunkt, wie sehr das für die Dramaturgie des Programms auch erwünscht gewesen sein mag, als vielmehr ein künstlerisches Netzwerk, eine ‚Bruderschaft‘ des fruchtbaren Austauschs und der wechselseitigen Anerkennung.
Auch die Art der gespielten Werke hat keinen klaren Bezug zu ‚Leipzig 1723‘. Nicht vokal-instrumentale Musik gottesdienstlicher Prägung ist zu hören, sondern avancierte Instrumentalkunst, wie sie allen vier Komponisten in verschiedenen Lebens- und Arbeitssituationen zu schreiben aufgegeben war. Es sind vor allem Concerti, dazu eine Sonate von Fasch und ein Quartett von Telemann, entstanden zwischen 1710 und dem Ende der 1730er Jahre. Sie stehen für die Vielfalt instrumentaler Größe in jener Zeit, für die rasante Fortentwicklung ästhetischer Prinzipien und prägender Formmodelle – übrigens keineswegs mit Bach als einzigem oder auch nur Zentralgestirn. Das Album ist also einerseits erkennbar ein Vehikel für die Blockflötenkunst Stefan Temminghs, zugleich ein Abbild instrumentalmusikalischer Vielfalt im Spätbarock, auch mit Bach, aber eben nicht nur.
Virtuos
Stefan Temmingh agiert hier mit dem solistisch besetzten Capricornus Consort Basel. Im einzelnen sind es Péter Barczi und Éva Borhi auf der Violine, Sonoko Asabuki auf der Viola, Daniel Rosin auf dem Violoncello, Michael Bürgin auf dem Violone, Julian Behr auf Theorbe und Gitarre sowie Wiebke Weidanz auf dem Cembalo. Das Ensemble spielt höchst agil, in einer ungemein plastischen Klanggestalt, die frisch bewegt wird und auch zu seelenvoller Lyrik sich versammelt. Ein luzide zeichnendes Bassregister verleiht der Szenerie schöne perkussive Impulse.
Temmingh selbst gibt seiner sprudelnd-natürlichen Geläufigkeit Raum, zumeist ohne vordergründig virtuose Wirkungen – außer im finalen Satz des bekannten Telemann-Konzerts C-Dur TWV 51:C1: Da lässt er mit flatternder Zunge die Zügel schießen und reitet die Welle. Ansonsten nimmt er mit technischer Ambition für sein Spiel ein, die sich aus der Logik und Ästhetik der Sätze ergibt. Das Melos der langsamen Sätze liebt er jedoch ebenso wie die Rasanz der Ecksätze.
Tempi werden grundsätzlich entschieden gewählt, das Potenzial des edlen Materials wird in jeder Hinsicht ausgekostet; dynamisch stehen scharf gezeichnete Profile im Vordergrund – klare Verhältnisse in jeder Hinsicht. Intoniert wird im kammermusikalischen Wechselspiel ohne jede Irritation, artikuliert wird mit allen Finessen, die zur Gestaltung dieser Musik notwendig sind: Insgesamt eher kleinteilig und perkussiv, um so effektvoller tritt die davon emanzipierte lineare Sphäre hervor. Das Klangbild ist konzentriert und klar, dazu trotz räumlicher Größe überzeugend strukturiert.
‚Leipzig‘ 1723 ist also eher Schlagwort und bietet den Anlass, auf einen sehr viel größeren Kontext zu schauen: Stefan Temmingh und das Capricornus Consort Basel mit einem Programm voller hochlebendiger Musikgeschichte.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Leipzig 1723: Stefan Temmingh, Capricornus Consort Basel |
|||
Label: Anzahl Medien: |
Accent 1 |
Medium:
EAN: |
CD
4015023243750 |
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Bach, Johann Sebastian |
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Accent Schon bei der Gründung des Labels 1979 durch Andreas Glatt war klar, dass ACCENT sich fast ausschließlich mit Alter Musik in historischer Aufführungspraxis beschäftigen würde. Die Künstler, die für ACCENT aufnehmen oder aufgenommen haben, gehörten von Anfang an zu den renommiertesten Interpreten der "Alte-Musik-Szene": darunter die Brüder Barthold, Sigiswald und Wieland Kuijken, René Jacobs, Jos van Immerseel, Maria Cristina Kiehr mit La Colombina, Paul Dombrecht, Marcel Ponseele mit seinem Ensemble Il Gardellino, aber auch jüngere Künstler wie Ewald Demeyere und sein Bach Concentus, das Ensemble Private Musicke mit Pierre Pitzl oder das Amphion Bläseroktett. Der ACCENT-Katalog möchte den neugierigen Musikfreund auf eine Reise durch die Welt der Alten Musik mitnehmen. Dabei wird er, neben ausgewählten Standardwerken, nicht selten Stücken begegnen, die kaum im Konzertbetrieb oder auf CD anzutreffen sind. Erstaunlicherweise stammen sie nicht nur von wenig bekannten Komponisten, sondern auch von so großen Namen wie Johann Sebastian Bach oder Georg Philipp Telemann. Diese Raritäten werden für ACCENT nicht allein um ihres Seltenheitswerts aufgenommen, sondern vielmehr, weil sie wichtige, bislang sträflich vernachlässigte Werke sind, deren Entdeckung zu einem persönlichen Anliegen der Interpreten wurde. Mehr Info... |
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