
Romeo & Juliet - Beyond Words - Orchestra of the Royal Opera House, Koen Kessels
Parade der perfekten Po-Muskeln
Label/Verlag: Opus Arte
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Das Royal Ballet präsentiert eine Spielfilmversion ihres Bestsellers in der Choreographie von Kenneth MacMillan. Gedreht wurde in Budapest.
Klassisches Ballett ist eine extrem abstrahierte Form des Ausdrucks: Gefühle und Geschichten müssen durch maximale Stilisierung vermittelt werden. Das gilt zweifelsohne für die 1938 uraufgeführte 'Romeo und Julia'-Version von Sergei Prokofjew, die in den großen Liebesszenen einige der lyrisch-schönsten Momente enthält, die Prokofjew je komponiert hat. Der britische Choreograph Kenneth MacMillan kreierte zur Prokofjew-Partitur 1965 eine Londoner Produktion, die zu den Bestsellern des Royal Ballet Covent Garden zählt. Ich habe sie selbst als Student – vor drei Jahrzehnten – mehrfach auf der Bühne gesehen, mit den damaligen Stars der Truppe. Es ist eine Produktion, die mit ihren Pseudo-Renaissance-Kostümen (besonders dem gigantischen Kopfputz der Frauen) den berühmten Franco-Zeffirelli-Film vorwegzunehmen scheint. Nicht ausgeschlossen, dass Zeffirelli die MacMillan-Version kannte und sich davon inspirieren ließ.
Nun hat das Royal Ballet selbst eine Filmfassung geschaffen in der Regie der Ex-Tänzer Michael Nunn und William Trevitt, auf Basis der MacMillan-Choreographie. Es ist allerdings keine abgefilmte Bühnenaufführung. Stattdessen ist die Kompanie nach Ungarn gereist und hat sich dort ein quasi realistisches Fantasie-Verona aufbauen lassen, um in den Kulissen einen Stummfilm zu drehen – 'Beyond Words' heißt es im Untertitel. Man sieht somit eine 91-minütige Pantomime, ohne Zwischentitel oder sonstige Beschriftungen. Man muss also wissen, wer da wer sein soll und was passiert. Beim berühmtesten Liebespaar der Literaturgeschichte könnte man davon ausgehen, dass die Story halbwegs bekannt ist. Ein paar Marker hätten meiner Meinung dennoch nicht geschadet.
Objekte der Begierde
In dem realistisch anmutenden Setting wirken die traditionellen MacMillan-Ballettkostüme etwas seltsam. Besonders die hautengen Hosen-mit-Frontpolster, in denen alle (!) Männer herumlaufen. Aber man gewöhnt sich schnell daran, zumindest wenn man Spaß daran hat, die muskulösesten Beine der Filmgeschichte in solcher Fülle und in so vielen Nahaufnahmen zu erleben. Es ist keine Übertreibung zu konstatieren, dass die Tänzer von der Produktionsfirma BalletBoyz als Objekte der Begierde präsentiert werden, die man wahlweise auch noch mit geöffneten Hemden sieht, um perfekte Bauch- und Brustmuskeln sichtbar zu machen, oder die im Regen und Matsch kämpfen, damit alles noch hautenger sitzt und durchsichtiger wird. Unter diesen Voraussetzungen kann es William Bracewell als jugendlich-durchtrainierter Romeo jederzeit mit Leonard Whiting bei Zeffirelli aufnehmen, die Haare sind sogar fast identisch gestylt. Bracewell wird gerahmt von Marcelino Sambé als Mercutio und James Hay als Benvolio. Alle sind bravourös in ihren Bewegungen, ebenso Matthew Ball als Tybalt. Es ist eine Freude, ihnen zuzuschauen.
Verglichen damit sind die Frauen fast züchtig verpackt. Francesca Hayward ist eine fragile Julia, die die Unschuld der Figur perfekt einfängt, aber nur in kurzen Momenten ein sexuelles Erwachen erahnen lässt. Alle anderen Frauen verschwinden in wuchtigen Kostümierungen, was – verglichen mit der männlichen Muskelparade – die Balance arg beeinträchtigt. Man könnte auch sagen: Für schwule Zuschauer und Heterofrauen ist diese Filmfassung ein potenzieller Softcore-Traum. Alle anderen könnten sich daran stören.
Geringe Fallhöhe
Die vielen Nachaufnahmen sorgen dafür, dass Details, die man üblicherweise bei einer Ballettaufführung bewundert, verloren gehen. Stört das? Unter den geschilderten Voraussetzungen nicht wirklich. Auch weil immer alles in Bewegung bleibt, inklusive Windmaschine, die dafür sorgt, dass selbst in der Liebesnacht die Nachthemden ‚in motion‘ bleiben. Ebenso die Haare. Zentrale Wendepunkte der Geschichte werden ein bisschen beliebig überspielt, etwa der Übergang vom Tod Tybalts zur zweiten Liebesnacht, in der sich Julia für Romeo entscheidet, obwohl sie weiß, dass dieser gerade ihren Verwandten umgebracht hat. Das nimmt der Geschichte Fallhöhe. Ebenso am Anfang, beim ersten Clash zwischen den Capulets und Montagues. Plötzlich sind überall Leichen ohne Blut und ohne, dass jemand mit der Wimper zuckt und trauert, während später der eine tote Tybalt fürs allergrößte Massenmelodrama sorgt.
Der 'Nachtgesang', also die Balkonszene als Szene-aller-Szenen, in der Prokofjew emotional voll auf die Tube drückt und das Orchester zu größtmöglicher Prachtentfaltung auffahren lässt, ist musikalisch überwältigender, als es Bracewell und Hayward optisch umsetzen können. Trotz Windmaschine. Das liegt u. a. daran, dass die Kamera keine Möglichkeiten schafft, Ekstase zu visualisieren. Denn in Bezug auf Schnitt und Montage bleibt alles klassisch, nie crazy und atemlos wie bei Baz Luhrmann 1996.
Es spielt das Orchester des Royal Opera House unter Koen Kessels, die Partitur ist gekürzt, klingt aber überzeugend. Die ‚italienische‘ Renaissance-Gesellschaft, die gezeigt wird, ist ethnisch so divers wie das moderne London und so, wie’s im ‚realen‘ Verona zu Shakespeares Zeiten kaum denkbar wäre. Dieser Aspekt wird jedoch nicht selbstbewusst oder ironisch eingesetzt wie in der Netflix-Serie 'Bridgeton', was schade ist. Stattdessen wird so getan, als sollte es niemandem weiter auffallen.
Was bleibt? Vor allem viele wunderbare Bilder von attraktiven Menschen, die sich zu großartiger Musik atemberaubend bewegen, eingefangen von Kameramann William Trevitt. Die Männerbeine hatte ich schon erwähnt (ich wiederhole es gern nochmal). Der Rest ist unangestrengte Unterhaltung, ohne größere Verstörungen. Letztere hätten der Geschichte allerdings gut getan, denn an 'Romeo und Julia' sind nicht nur die Männerbeine und Po-Perspektiven spannend. Dass Shakespeare und seine Tragödie der ‚star crossed lovers‘ seit Jahrhunderten die Welt fasziniert, hat sehr viele weitere Ebenen. Die man anderswo suchen muss.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: Features: Regie: |
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Romeo & Juliet - Beyond Words: Orchestra of the Royal Opera House, Koen Kessels |
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Label: Anzahl Medien: |
Opus Arte 1 |
Medium:
EAN: |
DVD
809478012948 |
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