
Haas, Pavel - Lieder aus Theresienstadt und der Zeit davor
Musik am Abgrund der Menschheit
Label/Verlag: ARS Produktion
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Musik ist dem Menschen Kultur, ist ein wesentlicher Ausdruck seiner Würde, seiner inneren Freiheit im Schaffensprozess und seiner äußeren in der Interpretation. So ist es nur auf den ersten Blick irritierend und verstörend, wenn im ‚grauenvollen Niemandsland zwischen Leben und Tod’ die Künste jenen, die sich ihnen verschrieben hatten, ein letzter Lebensquell wurden. Den jüdischen Häftlingen in Theresienstadt gelang es, durch die kulturellen Lebensäußerungen ihre Selbstachtung zu erhalten und auf diese Weise verzweifelt gegen eine Ideologie zu protestieren, die ‚den Juden das Menschsein abspricht’.
In dieser Situation finden wir auch mindestens drei bedeutende Komponisten: Den Brünner Pavel Haas (1899-1944), den aus Prag stammenden Hans Krása (1899-1944) und den vormaligen Assistenten Alexander Zemlinskys in Prag, Viktor Ullmann (1898-1944). Alle drei wurden 1942 nach Theresienstadt deportiert und widmeten sich dort, bevor sie 1944 in Auschwitz ermordet wurden, teilweise intensiv dem Komponieren, der Organisation eines kulturellen Lebens und der Aufführung ihrer eigenen und anderer Werke. Das heutzutage wieder bekannteste Werk dürfte dabei Krásas Kinderoper ‚Brundibár’ sein, die, obwohl bereits 1938/39 entstanden, erst in Theresienstadt mit 55 Aufführungen zu einem Erfolgsstück wurde.
In der vorliegenden Aufnahme sind von allen drei Komponisten Liederzyklen zu hören, die größtenteils nach 1942 entstanden sind, andere geben einen Eindruck von früheren Arbeitsstadien. Der ehemalige Janáèek-Schüler Pavel Haas ist mit einer Sammlung von ‚Drei chinesischen Liedern’ aus dem Jahre 1921 vertreten, als er noch bei seinem berühmten Lehrer studierte. Es sind dies sehr gesammelte, prägnante Lieder mit eigenständiger Führung des spannungsreichen Vokal- und Begleitparts, die unmittelbar und stimmungsvoll wirken. Weit komplexer präsentieren sich da die 1944 entstandenen ‚Vier Lieder nach chinesischer Poesie’, die mit eigenwilliger Binnendynamik große Stimmungsdifferenzen offenbaren. Dabei integriert Haas meisterlich Anklänge böhmischer Motivik in das dichte rhythmisch-harmonische Geflecht, das immer in einer düsteren Haltung verharrt. Im abschließenden Lied will eine durch den Text motivierte Apotheose denn auch nicht gelöst wirken – gespenstisch bleibt sie ohne jede Leichtigkeit und freudlos.
Hans Krásas Tonsprache ist schon deutlicher von der Tonalität emanzipiert, findet ihre Vorbilder wesentlich in den Beispielen der ‚Groupe des Six’ und dem späten französischen Impressionismus. Schon eine frühe Sammlung von 1925 zeigt eine lakonische ‚Kurz-Sprache’ mit oft nicht mehr als zwei musikalischen Gedanken, die aber miniaturartig sehr konzentriert ausgearbeitet werden. In einem Zyklus für Bariton, Klarinette, Viola und Violoncello von 1943 begegnen uns ebenfalls drei kurze Epigramme, die die charakteristischen Klangfarben der mitwirkenden Instrumente geschickt nutzen und - nunmehr ohne jegliche tonale Fixierung - auf der Textbasis von Rimbaud-Gedichten eine düstere Stimmung schaffen
Den größten Raum nehmen Werke Viktor Ullmanns ein. Sein ‚Liederbuch des Hafis’ von 1940 scheint dabei ebenso ausdrucksstark wie die drei Lieder für Bariton und Klavier aus dem Jahr 1942, beides Werke, die bereits vor der Theresienstädter Zeit entstanden waren. Es sind tonal bestimmte Werke, die in teils drastischer Haltung bald kurios, bald von tiefer Lebensnähe getragen scheinen.
1943 entstand die Sammlung von 12 musikalischen Miniaturen ‚Der Mensch und sein Tag’ nach Texten seines Mithäftlings Hans-Günther Adler. Große Unruhe und Ungewissheit werden in Stücken von häufig kaum mehr als einer Minute Länge auf engstem Raum ausgedrückt – immer wieder mit tonalen ‚Rückversicherungen’. Gedankenvolle Nachspiele von großer Intensität sind hier besonders auffällig. Abgeschlossen wird das Programm der Platte durch ‚Zwei chinesische Lieder’ von 1943, die zwar eine lyrischere Geste gewonnen haben, die jedoch ohne jede Hoffnung bleiben – Symbol dafür ist der ausweglos dissonante Schlussakkord.
Der Frankfurter Bariton Frieder Anders nimmt sich dieser bedeutenden und unbedingt bewahrenswerten Musik gemeinsam mit der russischstämmigen Pianistin Stella Goldberg an. Er verfügt dabei über eine eher schmale, klangschöne Stimme, deren Einsatz in der vorsichtigen Ausdeutung der teils fragilen Lieder manchmal zu verhalten, zu kontrolliert wirkt. Eine etwas größere Portion musikantischen Geists wäre der Einspielung bei aller gebotenen Ernsthaftigkeit und Sorgfalt wohl bekommen.
Dabei ist mit Stella Goldberg eine souveräne und gestaltungsmächtige Begleiterin zu hören, deren Spiel, auf einem technisch hohen Niveau stehend, künstlerische Potenz verrät. Anders kann dem gelegentlich aufblitzenden dynamischen Furor Goldbergs nicht zuletzt auf Grund mangelnder Durchschlagskraft in den Randregistern nicht immer folgen. Deutliche Stärken der Aufnahme liegen dagegen in der Wahl der Tempi, die als sehr glücklich und hervorragend abgestuft zu bezeichnen ist. Klanglich ist ein hin und wieder zu registrierendes Ungleichgewicht auf Kosten der Gesangsstimme zu erwähnen, das aber einer sehr bewussten, beinahe akribischen Interpretation keinen wirklichen Abbruch tut. Ein im besten Sinne vorbildliches Booklet, mit sachkundiger Einführung, Übersetzungen der teils tschechischen Texte und vielen weiterführenden Hinweisen ist eigentlich mehr als nur diese eine Erwähnung wert.
Die Lieder verdienen unbedingt größte Aufmerksamkeit und finden hoffentlich auch recht bald den künstlerisch verdienten Weg in die Repertoires der bedeutenden Liedsänger der Gegenwart.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Haas, Pavel: Lieder aus Theresienstadt und der Zeit davor |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: Aufnahmejahr: Veröffentlichung: |
ARS Produktion 1 01.05.2008 2002 2003 |
Medium:
EAN: BestellNr.: |
CD
4011407974258 FCD368524 |
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