
Britten, Peter Grimes - Bergen Philharmonic Orchestra and Choirs, Edward Gardner
Mit Glitzern und Tosen
Label/Verlag: Chandos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Hier ist eine wichtige, zeitgemäße Neuaufnahme eines Klassikers geglückt.
Benjamin Brittens 'Peter Grimes' ist schon lange ein Klassiker auf den internationalen Opernbühnen. Schnell eroberte sich das Werk nach seiner Uraufführung 1945 einen festen Platz im Repertoire. Neben der hochemotionalen und zugleich klar sezierenden Musik Brittens ist es das stets aktuelle Drama um den Außenseiter Peter Grimes, der keinen Platz in der Gesellschaft finden kann. Unbarmherzig treibt ihn der Mob in den Selbstmord. Die Hauptrolle spielt dabei weniger die Titelfigur als das Meer selbst, nebst den energetischen Chorsequenzen, die auch das Ensemble in Form von fein beobachteten Charakterporträts einschließen. Brittens Musik kennt die kalte Brutalität der Menschen ebenso wie ihre lichten Seiten, er komponiert die zerstörerische Kraft des Meeres, aber auch das Glitzern der Wellen. Und wo Platz für lyrische Melodik ist, tönen auch die gellenden Schreie salzverkrusteter Seelen aus der Tiefe.
Theatrale Hingabe
'Peter Grimes' kann den Zuhörer kaum kalt lassen – schon gar nicht, wenn ein hervorragendes Ensemble und ein musikalischer Leiter mit einer klaren Vision am Start sind. Und genau das ist bei der Neuaufnahme beim Label Chandos der Fall. Sie ist von höchster Authentizität und theatraler Hingabe. Das herrliche Bergen Philharmonic Orchestra kennt das Element Wasser wie kaum ein anderer Klangkörper, sie lassen es mit Verve und Präzision stürmen, regnen und strahlen. Edward Gardner lässt Brittens Partitur so plastisch vor dem inneren Auge erklingen, dass es einem immer wieder den Atem verschlägt. Deutlich ist zu spüren, dass die hier dokumentierte Interpretation auf mehreren halb-konzertanten Aufführungen des 'Peter Grimes' fußt: einige bereits 2017 und dann eben jene im November 2019, in deren Zug diese Einspielung in Bergen entstand. Die szenischen Vorgänge sind bei allen Beteiligten verinnerlicht – man glaubt jede Mimik, jeden Handgriff akustisch zu begreifen –, wo möglich verdeutlichen Zuspieler die lokale Verortung und stützen die Atmosphäre wie beispielsweise in der Kneipenszene. Das transparente Klangbild der beiden SACDs tut sein Übriges. Man fühlt sich als Zuhörer mitten im Geschehen, kann sich dem Sog der Musik, der unaufhaltsamen Handlung nicht entziehen.
Mit Stuart Skelton steht ein rollenerfahrener Grimes an der Spitze des Ensembles. Es wäre ein Leichtes, den australischen Tenor in der Tradition eines Jon Vickers in dieser Partie zu sehen, aber das würde dem Sänger nicht gerecht. Er ist kein Vickers, er ist ein Skelton. Ja, er kommt nicht aus der lyrischen Linie eines Peter Pears oder Philip Langridge, aber es gibt für den Grimes auch nicht ‚nur‘ zwei Schubladen. Skelton formt seinen eigenen Titelhelden, dessen Außenseitertum etwas Verstörendes hat. Gequält und oft am Rande des Greifbaren wandert Skeltons Grimes. Fast möchte man ihm etwas Unmenschliches oder Jenseitiges unterstellen. Die Faszination seiner Lesart ist zwingend. Er bringt staatliches heldisches Grundmaterial mit, die heftigen Ausbrüchen, überrascht dann aber wieder mit einer gewinnenden Zartheit in vielen Passagen. Das ‚Now the Great Bear and Pleiades‘ haucht er gespenstisch in den Raum und seine letzten, fragenden 'Grimes'-Rufe lassen den Atem stocken. Ein Mensch verliert sich, hat sich vielleicht nie gefunden. Eine bemerkenswerte Leistung.
Eiskalte Rufe
Bestens aufgelegt präsentieren sich die von Håkon Matti Skrede geleiteten Chöre: der Bergen Philharmonic Choir, der Edvard Grieg Kor, der Royal Northern College of Music Chorus und der Choir of Collegium Musicum. Höhepunkt ist zweifelsfrei das Ende des ersten Bildes des dritten Akts: die präzise gesetzten, gellenden, eiskalten ‚Grimes!‘-Rufe der Dorfgemeinschaft. Sie fahren dem Hörer durch Mark und Bein. Hier wird auch deutlich, welche Kraft Britten und hier eben auch Gardner aus den Pausen schöpft. Stille gehört ebenso zu den Stärken dieser dynamisch breit gefächerten Neuaufnahme.
Den Captain Balstrode kann man kaum seelenvoller und nahbarer singen, als Roderick Williams das mit seinem erdig-warmen Timbre und der griffigen Artikulation tut. Erin Wall ist eine betont lyrische Ellen Orford, die mit einer leicht beschränkten Farbpalette den ihr größtmöglichen Herzenston für die Lehrerin sucht. Dabei mangelt es im ersten Akt bei ihrer Aufforderung ‚...der werfe den ersten Stein‘ an Dramatik und Eindringlichkeit, aber gerade in ihrer großen Szene mit Grimes zu Beginn des zweiten Akts kann sie ihre klanglich kultivierten Stärken und ihre schöne Phrasierung zur Geltung bringen. Die 'Embroidery Aria' gerät etwas oberflächlich, aber zweifelsfrei mit großer Tonschönheit.
Die Auntie ist bei Susan Bickley mit ihren orgelnden Tiefen in den besten Händen, ebenso die Mrs Sedley bei der Erzkomödiantin Catherine Wyn-Rogers, die hörbare Freude am Klatschen, Tratschen und Keifen hat. Robert Murray gibt den fanatischen Bob Boles mit gezielter Schärfe und James Gilchrist den doppelbödigen Reverend. Überhaupt ist das Ensemble bis in die kleinsten Rollen mit großer Liebe zum Detail besetzt: Barnaby Rea als Hobson, Marcus Farnsworth als Ned Keene, Neal Davies als plump gefährlicher Swallow und die beiden zwitschernden Nichten von Vibeke Kristensen und Hanna Husáhr ... auch wieder ein Moment zum Schwärmen: das gläserne, unwirkliche Damen-Quartett, das wie Nebelschwaden überm trügerisch ruhigen Wasser schwebt. Was für ein 'Peter Grimes'!
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Britten, Peter Grimes: Bergen Philharmonic Orchestra and Choirs, Edward Gardner |
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Label: Anzahl Medien: |
Chandos 2 |
Medium:
EAN: |
CD SACD
095115525029 |
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Britten, Benjamin |
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Chandos Chandos Records was founded in 1979 by Brian Couzens and quickly established itself as one of the world's leading classical labels. Prior to forming the label, Brian Couzens, along with his son Ralph, worked for 8 years running a mobile recording unit recording for major labels (including RCA, Polydor, CFP, etc.) with many of the world's leading artists.
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