
Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg - Bachchor Salzburg, Staatskapelle Dresden, Christian Tielemann
Zu erhaben
Label/Verlag: Profil - Edition Günter Hänssler
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Eine neue Live-Aufnahme der 'Meistersinger von Nürnberg' von den Osterfestspielen Salzburg mit Christian Thielemann am Pult der Sächsischen Staatskapelle zelebriert Wagner in epischer Breite – und verliert dabei den Blick für Komödiantische.
Es ist mir eigentlich noch nie passiert, dass ich gleich in den ersten Takten der Ouvertüre der 'Meistersinger von Nürnberg' das Interesse an der restlichen Aufnahme verliere. Aber hier startet die Oper derart breit ausmusiziert, als handle es sich um die 'Götterdämmerung' mit ihrer ganz anderen kompositorischen Faktur und ihrem anderen musikalischen Fluss. Das führt dazu, dass sich bereits vorm Einsatz der eigentlichen Handlung eine Art Lethargie beim Zuhören einstellt, die auch in den folgenden drei Akten nie vollständig abgeschüttelt wird.
Über weite Strecken schreitet Thielemann majestätisch dahin, breitet einen opulenten Klangteppich aus, lässt aber kaum jemals so etwas wie Schmiss aufkommen, verblüffende Kontraste entstehen, echtes Leben durchschimmern: bei der Lehrbubenszenen, in den Tanzpassagen ('Johannistag'), im grotesk hüpfenden Abgang von Sixtus Beckmesser. Von der 'Prügelfuge' ganz zu schweigen. Das kann man als persönliche Eigenheit des Dirigenten und als reife bzw. späte Interpretation Thielemanns schätzen, mich hat es leider gelangweilt. Und verblüfft, weil ich selbst vor fast 30 Jahren unter Thielemann eine Aufführungsserie der 'Meistersinger' an der Deutschen Oper Berlin mitsingen durfte im Extrachor, wo seine Herangehensweise ans Stück eine viel aktivere war.
Auf der Stelle
Auf dem neuen Breitwand-Sound betreten seine Solisten die Klangbühne, bekommen viel Zeit zum Phrasieren und Artikulieren, können aber oft nicht verhindern, dass der Eindruck entsteht, sie träten auf der Stelle (zum Beispiel im 'Fliedermonolog', mit schier endlosen Pausen). Zudem ist keiner der Solisten von einer vokalen Statur (die sich übers Mikrophon vermittelt), dass Erinnerungen an vergangene Interpreten vergessen gemacht würden und man mit Neugierde neue Interpretationsansätze zu hören bekäme.
Georg Zeppenfeld singt einen angenehm warm timbrierten Hans Sachs, aber eine akustische Autoritätsperson à la Paul Schöffler ist er nicht. Auch ist zwischen ihm und Adrian Eröd als Beckmesser kein echter Konkurrenzkampf zu hören, kein Charakterkontrast spürbar, womit speziell die ausgedehnte Schusterszene im 2. Akt fast überflüssig wirkt. Und aus einem Beckmesser sollte man schon mehr herausholen im Sinn einer Charakterstudie, egal in welche Richtung man diese anlegt. Nur nobel singen – reicht nicht! (Außerdem hat das bereits Hermann Prey besser gemacht. Und mit mehr Selbstironie.)
Als Liebespaar präsentieren sich Klaus Florian Vogt als Ritter Stolzing und Jacqueline Wagner als Eva. Dass seine Kindertrompetenstimme im Theater fabelhaft klingt und wirkt, weiß man. Dass diese Wirkung sich auf Tonträger nicht einstellt, weiß man inzwischen aber auch. Thielemann wird sich dessen bewusst gewesen sein, als er die Besetzung für eine Plattenproduktion zusammenstellte. Oder? Vogts Stimme fehlt der Schmelz, der besonders das Preislied zum Ereignis macht oder im ersten Akt das 'Lenzeslied' (‚Am stillen Herd zur Winterszeit‘). Wer nicht bis in die Tiefen der Aufnahmegeschichte zurückgehen will, um etwa Ludwig Suthaus 1943 als verführerischen Stolzing mit unendlichen Kraftreserven zu erleben (ebenfalls live), der hat mit Sándor Kónya einen Stereo- und Studio-Stolzing, der jenes erotische Flirren im Ton hat, das hier fehlt, obwohl auch Kónya eine eher ‚weiße‘ Stimme besitzt, wie Vogt. Aber ihre Mikro-Wirkung ist völlig anders.
Vorbilder
Und das gilt auch fürs Evchen: Jacqueline Wagner wirkt über Mikrophon sehr reif im Ton, fast damenhaft in der Vortragsweise, mit einem prononcierten Vibrato. Das stört besonders im berühmten Quintett (‚Selig wie die Sonne‘), wo andere Soprane auf Tonträger Maßstäbe gesetzt haben, an die Wagner nicht herankommt. Man denke an die junge Elisabeth Schwarzkopf, 1951 live aus Bayreuth unter Karajan, oder an Gundula Janowitz im Studio unter Rafael Kubelík 1967. Dieses Erblühen der Vokallinie, dieses Schwelgen im Klang, das Entladen auf dem letzten hohen Ton: das bleibt beim Sonnengesang hier bedauerlicherweise aus. Und für ‚Sachs, mein Freund‘ sollte man nur mal kurz Tiana Lemnitz mit ihrem ‚Cri du cœur‘ hören und das vergleichen. Schwarzkopf hält diesen Vergleich aus und hat offensichtlich die berühmte ältere Kollegin genau studiert, um von ihr zu lernen. Das hätte ich mir von Jacqueline Wagner auch gewünscht, zumindest ansatzweise. Denn als interessierter Plattenkäufer hat man natürlich solche Aufnahmen im Kopf und hört sie im Geiste mit, ob man will oder nicht.
Und so könnte man die Reihe rum weiter vergleichen. Doch wozu? Mag sein, dass diese Aufführung auf der Bühne in Salzburg eindrucksvoller rüberkam, weniger statisch wirkte, mehr Leben hatte (im Booklet sind viele Szenenfotos enthalten, bei denen ich mir nicht so sicher bin, wie viel Leben in der optischen Seite der Produktion steckte). Nur auf Tonkonserve reduziert, vermittelt sich wenig vom Spaß, den man mit diesem Stück haben kann, vom bunten Treiben in Nürnberg, von einer mitreißenden Festwiesenatmosphäre. Überhaupt von einem zwischenmenschlichen Miteinander, bei dem es um ein packendes Sozial- und Künstlerdrama geht, nicht nur ums Schönsingen und Zelebrieren einer Art ‚Bühnenweihfestspiel‘.
Hier und heute
Wen all das nicht stört – und wer eine 'Meistersinger'-Aufnahme von hier und heute sucht – ist mit diesen vier CDs gut bedient (Sebastian Kohlhepp singt den David, Christa Mayer die Magdalene, Vitaij Kowaljow den Pogner). Wer ein aufregendes und mitreißendes Live-Erlebnis will, sollte bei Karajan (1951) bleiben oder sich die Fritz-Reiner-Aufnahme von 1955 anhören, mit Schöffler und Irmgard Seefried als entzückender Eva. Oder eine der unendlich vielen anderen Aufnahmen, die auf dem Markt sind (Charles Kullmann und Friedrich Schorr, 1939 aus der Met zum Beispiel). Da steckt auch nach über einem halben Jahrhundert ziemlich viel Leben drin, ebenso in den Studioproduktionen, die teils mit extremer Aufmerksamkeit für Details realisiert wurden. Ob man dereinst auch über Thielemann und dieses Ensemble so nostalgisch schwärmen wird, muss sich zeigen. Glücklicherweise gibt es bei diesem Stück keinen Mangel an vorzüglichen Aufnahmen in allen Preiskategorien.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg: Bachchor Salzburg, Staatskapelle Dresden, Christian Tielemann |
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Label: Anzahl Medien: |
Profil - Edition Günter Hänssler 2 |
Medium:
EAN: |
CD
8814882005914 |
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