
Jules Massenet: Thais - Toronto Symphony Orchestra, Sir Andrew Davis
Exotik-Rausch mit Luft nach oben
Label/Verlag: Chandos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Sir Andrew Davis betont die Schönheiten und Effekte der 'Thaïs'-Partitur, während die stimmlich attraktiven Solisten auf der Ausdrucksskala noch Luft nach oben lassen.
Die 'Méditation' von Jules Massenet – jenes anrührende Violinsolo mit Orchester, das in kaum einem Wunschkonzert fehlt – kennt der geneigte Klassikhörer zur Genüge. Die dazugehörige Oper 'Thaïs' ist hingegen schon eher aus dem Blickfeld gerückt. Vergleichsweise selten steht diese melodienreiche und exotisch-schwüle Comédie lyrique aus dem Jahr 1894 bzw. 1898 auf den Spielplänen und auch die Plattenindustrie hat der Versuchung widerstanden, sie in ähnlicher Schlagzahl wie Massenets 'Werther' oder seine 'Manon' auf den Markt zu bringen. Das mag einerseits an der bedeutungsschwangeren und zugleich recht reduzierten Handlung zwischen verführerischer Erotik und selbstzerstörerischer Askese liegen. Andererseits ist 'Thaïs' eben auch eine Oper, die von der Persönlichkeit ihrer wenigen Interpreten lebt.
Das Werk steht und fällt mit der Besetzung der Titelfigur sowie des Mönchs Athanaël. Drumherum kann fast schon geschehen, was da wolle, aber auf den Schultern dieser beiden Solisten liegt die Hauptlast, sie bestreiten so ziemlich jeden Augenblick im emotional aufgeladenen Duett oder in nicht weniger aufreibenden Solopassagen. Die übrigen Personen sind nicht unwichtige Stichwortgeber oder Dialogpartner, die weitestgehend auch das Kolorit liefern, das ebenso von Massenets raffiniertem Orchesterpart und den bühnenwirksam eingesetzten Chören bestimmt wird.
Blühende Farbpalette
Den wenigen greifbaren Studioproduktionen von 'Thaïs' mit ihren Stars wie Anna Moffo, Renée Doria, Beverly Sills oder Renée Fleming stellt sich nun die Neuaufnahme beim Label Chandos mit Erin Wall als Kurtisane an die Seite. Und wo einst Gabriel Bacquier, Sherrill Milnes oder Thomas Hampson den Athanaël gaben, schlüpft hier Joshua Hopkins in die emotionale Problemzone des Zenobiten. Auf zwei klanglich hervorragenden SACDs breitet Sir Andrew Davis mit dem Toronto Symphony Orchestra die blühende Farbpalette von Massenets Partitur eindrücklich aus.
Den schillernden Star-Bonus früherer Einspielungen besitzt die vorliegende 'Thaïs' nicht, sie muss sich aber dennoch nicht verstecken. Erin Wall und Joshua Hopkins überzeugen in ihren Partien auf der rein vokalen Seite weitestgehend, lassen auf der Ausdrucksskala aber noch Luft nach oben. Gerade bei Erin Walls Thaïs würde man sich auf der reinen Tonkonserve mehr Farben und wahrhaftigeren Ausdruck in mutigeren Kontrasten wünschen. Wall besitzt einen reizvollen Sopran, der mit jugendlicher Frische und schönem Piano punktet. So einige Effekte, wie ein Diminuendo im Höhenpiano oder das zarte Verhauchen einer Passage, erinnern stark an Beverly Sills‘ Interpretation. Doch was bei Sills authentisch klingt, erhält bei Wall eine Tendenz zur bloßen Attitüde. Sie fühlt die Seelenqual der Thaïs mit Sicherheit in aller gebotenen Tiefe, aber es transportiert sich nicht durchgängig. Gerade die 'Spiegel-Arie' vermag nicht zu berühren, obwohl sie wunderschön gesungen und behutsam gestaltet ist. Magische Momente kommen nicht auf. Eindrücklich gelingen Wall dann wieder das zweite Bild des zweiten Aktes und die Oasen-Szene. In der Sterbeszene stößt die Sopranistin, die mit ihrem Vibrato bisweilen großzügig umgeht, an ihre Grenzen – aber das tut die Titelfigur hier schließlich auch.
Klanggewaltig
Joshua Hopkins ist an Walls Seite ein ausgesprochen potenter und klanggewaltiger Athanaël. Von Askese weiß diese kernige, dunkle Baritonstimme wenig – passend zum Charakter. Seine Anklage an das verderbte Alexandria ist ausgesprochen sinnlich und verschwenderisch im Ton. Freilich wären auch bei ihm weitere Farben und Ausdrucksnuancen wünschenswert, um die Zerrissenheit Athanaëls nachvollziehbar zu machen. Manche Höhe bereitet Hopkins hörbares Unbehagen, tut aber dem attraktiven Gesang keinen Abbruch. Mit Erin Wall harmoniert Hopkins ausgesprochen gut, weshalb die Duette der beiden im Rahmen des Gebotenen ausnahmslos funktionieren.
Den Nicias gibt Andrew Staples mit leichtem Knödel und überraschend ältlicher Tongebung, aber zweifellos rollendeckend und glaubwürdig. Nathan Berg steuert als Palémon seinen dunklen, etwas knorrigen Bass bei und das Damen-Quartett ist mit Liv Redpath als Crobyle, Andrea Ludwig als Myrtale, Emilia Boteva als Albine und Stacey Tappan als Stratosphären-sicherer Charmeuse vorzüglich besetzt.
Üppige Melodiebögen
Das Toronto Symphony Orchestra genießt unter der Leitung von Sir Andrew Davis die reizvollen Ausflüge ins Exotische und schwelgt an anderer Stelle wieder in üppigen Melodiebögen und Klangeruptionen. Davis liefert zahlreiche Momente, die den Wert der 'Thaïs'-Partitur unterstreichen, zaubert Atmosphäre und sorgt für eine klare Textur. Ganz ausgezeichnet agiert der Toronto Mendelssohn Choir mit seinem Leiter David Fallis.
Bleibt am Ende die Frage, ob diese tontechnische Hochglanz-'Thaïs' ein Übermaß an polierter Oberfläche besitzt. Wall und Hopkins singen ihre Partien stimmstark und schön, aber auch wenig verbindlich. Und Davis betont die Schönheiten und Effekte der Partitur, lässt aber das eigentliche Drama auch in den Hintergrund treten. Trotzdem: Eine aktuelle 'Thaïs' war überfällig. Dass sie auch so manche Tendenzen im aktuellen Opernbetrieb widerspiegelt, muss man in Kauf nehmen.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Jules Massenet: Thais: Toronto Symphony Orchestra, Sir Andrew Davis |
|||
Label: Anzahl Medien: |
Chandos 1 |
Medium:
EAN: |
CD SACD
095115525821 |
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Massenet, Jules |
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