
Anton Bruckner: Mass in E minor, Stravinsky: Mass - Rundfunkchor Berlin, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Gijs Leenaars
Zwei Messen
Label/Verlag: Pentatone Classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Bruckners Messe wirkt in dieser Einspielung phasenweise geradezu duftig leicht, in ihrem reichen Idiom deutlich ausformuliert durchaus abseits manches Klischees.
Anton Bruckners mächtige Messe e-Moll für Chor und Bläser, uraufgeführt 1869 und bis ins Todesjahr 1896 hinein revidiert, greift gewiss Traditionen auf, wie es der Einführungstext von Maximilian Rauscher in der aktuellen Pentatone-Produktion des Rundfunkchors Berlin mit seinem jungen Leiter Gijs Leenaars nahelegt – doch emanzipierte Bruckner sich schon hier ästhetisch deutlich aus dem Umfeld österreichischer Landmessen, unter freiem Himmel zu singen und von städtischen oder militärischen Bläsern begleitet, um eventuelle vokale Unwuchten auszugleichen.
Erratisch groß
Anton Bruckner ist in diesem ausgreifenden Werk eigenwillig, lässt ganz und gar Eigenständiges, Unverwechselbares entstehen, erratisch groß, linear auch sperrig, geheimnisvoll im schwebenden A-cappella-Klang, machtvoll aufgerüstet im Bläserapparat, harmonisch spannungsreich und voller Überraschungen, dazu mit besonderen Anforderungen an den Chor, der vor allem dynamisch nicht nur geradezu sinfonischen Anforderungen gewachsen, sondern dazu auch von fantastischer Intonationsqualität getragen sein muss: Über weite Strecken dehnen sich immer wieder unbegleitete Phrasen aus, bevor an deren Ende bestätigende Bläserakkordik hinzutritt. Heikel ist das in jedem Fall und ein Gradmesser für die Qualität eines Ensembles dazu.
Gänzlich anders begegnet Strawinskys Messe, ebenfalls mit Bläsern zur Unterstützung des Chores, die der Komponist selbst als ‚kalte Musik‘ bezeichnet hat, ‚die direkt den Geist anspricht‘. Die Instrumente werden eigenständigere Wege durch diese in der Tat spröde, doch alles andere als unzugängliche Musik geführt. Der Chor ist mit auffallend gesanglichen Partien nicht extrem gefordert – Linien, die durchaus an den liturgischen Duktus der Messe erinnern. Anders als bei Bruckner sind die Instrumente in fast pausenlosem Einsatz – ein Umstand, der Strawinskys offenkundiges Misstrauen dem chorischen Reinklang gegenüber dokumentiert. Hinzu treten immer wieder Soli, deren Parts in Faktur und Anforderung so gehalten sind, dass eine Besetzung aus dem Chor heraus unbedingt angezeigt scheint.
Duftig leicht
Auch in dieser Disziplin erweist sich der Rundfunkchor Berlin – vielmehr seine solierenden Mitglieder – als sattelfest. Wie er insgesamt eine angenehm flexible Größe präsentiert, weit entfernt von den Traditionen ‚allgemeiner Rundfunkchorhaftigkeit‘. Natürlich sind Größe und Wucht zu hören, aber mindestens ebenso viel Befähigung zur nuancierten Geste. Das Heikelste bei Bruckner, den schon angesprochenen Wechsel von begleiteten und unbegleiteten Passagen in ambitionierter Harmonik, bewältigen die Vokalisten ohne jede Anstrengung. Die Tempi sind eher verhalten gewählt, geben viel Raum zu differenzierter Entfaltung – ein durchgehend zu erlebendes Merkmal der Einspielung und ein deutlicher Hinweis darauf, dass Gijs Leenaars erkennbar interpretatorische Geduld aufbringt. Prägend ist insgesamt eine gesammelte Haltung, dynamisch divers, geradezu sensibel im Aufbau von Steigerungen und Spannungen, beispielhaft in Bruckners Sanctus zu hören: Das ist hohe, verständige Kunst, die dem schon immer grassierenden und bislang auch in jeder jungen Dirigentengeneration sich erneuernden Irrtum Einhalt gebietet, wonach Bruckner zuallererst über Wucht, Gipfelorientierung und Bombast zu erfassen sei. Das ist bei den Sinfonien so falsch wie in dieser wunderbaren Messe.
Die Frauenstimmen des Chors bewältigen auch sehr hohe Parts ohne schneidende Schärfen, singen kontrolliert, in wie in den Männerstimmen konturstark ausgebauten Registern, prall und profiliert. Ausgreifende Linien prägen das Bild, aber nicht überzuckert bei Bruckner und um der vermeintlich moderneren Wirkung willen nicht künstlich verknappt bei Strawinsky: Klarheit dominiert in Sachen Phrasierung. Das Bläserensemble, bestehend aus Mitgliedern des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, etabliert sich als eigenständige Größe, bietet sehr viel mehr als nur Farbe und Grundierung – auch das, gewiss. Aber zumal bei Strawinsky gewinnen die Bläser auch gestisch eine prägende Rolle, getragen von wacher Lyrik und rhythmischer Präzision. Das Klangbild ist sehr gut balanciert, trotz der Vielzahl der Mitwirkenden angenehm transparent auch in dichterer Ballung.
Auf keinen Fall verfolgen Gijs Leenaars und sein Rundfunkchor Berlin klangliche Überwältigung als oberstes Ziel. Bruckners Messe wirkt phasenweise geradezu duftig leicht, in ihrem reichen Idiom deutlich ausformuliert – durchaus abseits manches Klischees. Und Strawinsky klingt dann – kompositorisch wie interpretatorisch – gar nicht so kalt wie apostrophiert. Eine hörenswerte Platte.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Anton Bruckner: Mass in E minor, Stravinsky: Mass: Rundfunkchor Berlin, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Gijs Leenaars |
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Label: Anzahl Medien: |
Pentatone Classics 1 |
Medium:
EAN: |
CD
827949077463 |
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Bruckner, Anton |
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