
Care Pupille - Samuel Marino, Händelfestspielorchester Halle, Michael Hofstetter
Unerhört aufregend
Label/Verlag: ORFEO
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Der 26-jährige Samuel Mariño lässt mit seinem außergewöhnlichen Sopran und Raritäten von Händel und Gluck die Ohren klingeln.
Das ist aufregend und im wörtlichen Sinne nahezu unerhört: Der 26-jährige Samuel Mariño aus Venezuela erklimmt mit Leichtigkeit Höhen, die man von einer männlichen Stimme bislang nicht erwartet hätte. An Countertenöre hat man sich längst gewöhnt – aber ein wirklicher Sopranist ist beileibe nichts Alltägliches. Und nicht nur, dass Mariño irisierende Höhenflüge meistert, er transportiert neben aller Virtuosität auch Emotionen. Mit viel Gespür für die Musiksprache des Barock formt er Charaktere, steigt in dramatische Situationen ein, zaubert Farben aus dem Hut, die bei einem so jungen Künstler tatsächlich staunen machen.
All diese Qualitäten sind auf dem Debütalbum Mariños nachzuhören, das beim Label Orfeo unter dem Titel 'Care pupille' erschienen ist. Aufgenommen wurde die Kombination aus Arien von Georg Friedrich Händel und Christoph Willibald Gluck im Oktober 2019 in Halle. Begleitet wird der junge Ausnahmekünstler vom Händelfestspielorchester Halle unter der Leitung von Michael Hofstetter.
Mutige Auswahl
Besonders lobenswert ist die konsequente und mutige Auswahl der eingespielten Nummern. Da begegnet einem nicht die hundertste Variante einer Arie aus 'Giulio Cesare' oder 'Alcina', und auch bei Gluck greifen die Künstler nicht auf die gängigen Standards zurück. Es gibt richtig viel zu entdecken und zu hören. Allein die Anordnung, mit fünf Arien Händels aus 'Berenice', 'Atalanta' und 'Arminio' zu beginnen und das Programm mit fünf Gluck-Arien und einer Sinfonia – allesamt aus Opernraritäten – abzuschließen, lässt dem Hörer die Reformgedanken Glucks vor Ohren stehen.
Die glitzernden Koloraturen und Intervallsprünge in den Bravourarien Händels meistert Mariño mit Souveränität und hörbarer Lust an der Präsentation. Es fällt aber auf, dass die Stärken des Sängers mehr im introvertierten Gesang, einer beseelten Ausformung in langsameren Tempi liegt, als im Abbrennen eines Vokalfeuerwerks. Fraglos beherrscht er auch das, aber gerade in Alessandros einleitender Arie aus 'Berenice' neigen die Spitzentöne im Forte zur Verhärtung und deutlichen Grenzerfahrung. Anders verhält es sich bei den ruhigeren Arien, in denen dem Sänger mehr Zeit zur Verfügung steht, seine Phrasen zu bauen, sein konzentriertes Piano Wirkung entfalten zu lassen und elektrisierende Höhenflüge organisch zu entwickeln. Diese Momente verzaubern ungemein.
Erfahrener Partner
Michael Hofstetter ist am Pult des Händelfestspielorchesters Halle dem jungen Sänger ein erfahrener und fordernder Partner. Viele Tempi sind straff, aber nicht gehetzt, und auch die langsamen Passagen wirken raumgreifend, ohne an Puls zu verlieren. Das alles klingt so organisch und theatral, dass keine Wünsche offen bleiben bei diesem Orchester, das dieses Repertoire mit jahrelanger Erfahrung idiomatisch zu beleben versteht.
Die eigentliche Sensation des Albums beginnt mit den Arien Christoph Willibald Glucks. Hier ist Samuel Mariño in seinem Element. Die Intensität des Sopranisten wird befeuert von Hofstetter und seinen Musikern. Schon in der Szene und Arie der Berenice aus Glucks 'Antigono' brodelt und knirscht es, Ahnungen aus dem Jenseits wehen herüber. Mariño kann hier emotionale Tiefe und Ausdruck kombinieren und ist nicht auf Virtuosität oder puren Stimmglanz konzentriert. Zudem ist das Spiel mit den Geschlechtern reizvoll. Der Sänger verkörpert in den Gluck-Arien sowohl Männer- als auch Frauenpartien. In 'Antigono' ist er als Berenice und danach als Demetrio zu hören – letztere Arie eine von drei Weltersteinspielungen, die das Album zu bieten hat. Massanissas Arie aus 'La Sofonisba' besticht mit Echoeffekten und Sirenenklängen in schwindelerregenden Höhenpiani. Doch bevor eine rasante Arie aus 'Il Tigrane' das Album beschließt, vereint Atalantas 'Quel chiaro rio' aus 'La Corona' noch einmal alle Qualitäten Mariños: Zart anrührende Verführung in Kombination mit spielerischer Agilität. Das geht unter die Haut.
Was bei dieser ungewöhnlichen und lohnenden Neuerscheinung allerdings fehlt, ist ein Beiheft, das nicht nur einen Allgemeinartikel und Informationen zu den Künstlern liefert, sondern auch die Arientexte mit Übersetzung abdruckt. Das ist bei einem solch konsequenten Raritätenprogramm nicht nur wünschenswert, sondern notwendig.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Care Pupille: Samuel Marino, Händelfestspielorchester Halle, Michael Hofstetter |
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Label: Anzahl Medien: |
ORFEO 1 |
Medium:
EAN: |
CD
4011790998121 |
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Gluck, Christoph Willibald |
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ORFEO Erschienen die ersten Aufnahmen des 1979 in München gegründeten Labels noch in Lizenz bei RCA und EMI, produziert und vertreibt ORFEO seit 1982 unter eigenem Namen. Durch konsequente Repertoire- und Künstlerpolitik konnte sich das Label seit seinem aufsehenerregenden Auftritt am Anfang der Digital-Ära dauerhafte Präsenz auf dem Markt verschaffen. Nicht nur bekannte Werke, sondern auch weniger gängige Musikliteratur und interessante Raritäten - davon viele in Ersteinspielungen - wurden dem Publikum in herausragenden Interpretationen zugänglich gemacht. Dabei ist es unser Bestreben, auch mit Überraschungen Treue zu klassischer Qualität zu beweisen.
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