
Lines written during a sleepless night - Louise Adler, Joseph Middleton
Familiengeschichte in Liedern
Label/Verlag: Chandos
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Dieses Album ist eine starke Visitenkarte für zwei außergewöhnliche Interpreten, die mit Leidenschaft, Klugheit und Fantasie ihre Kunst zu einem fesselnden Lied-Projekt kondensieren.
Louise Alders erstes Soloalbum für das Label Chandos ist ein sehr persönliches. Was sich hinter dem langen Titel 'Lines Written During A Sleepless Night – The Russian Connection' verbirgt, ist eine Art Hommage an die eigene Familiengeschichte Alders. Ihre Urgroßeltern flohen einst aus Odessa über St. Petersburg nach Finnland und gelangten von dort über Schweden und Norwegen nach England. Die junge Künstlerin vollzieht diese Reise, die sie selbst eine ‚mäandrierende Schlittenfahrt‘ nennt, musikalisch nach, setzt einzelnen Stationen ein klingendes Denkmal und füllt diese große geografische Distanz mit Emotion, ja, auch mit einem Schuss Sehnsucht.
Das im August 2019 eingespielte Album verfügt über ein recht umfangreiches Beiheft mit ausführlichen Werkbesprechungen von David Nice auf Englisch, Deutsch und Französisch sowie einen Begleittext zum Konzept von Louise Alder selbst. Die Liedtexte sind sämtlich zumindest ins Englische übersetzt. Einige Fotografien aus dem Familienarchiv beleben das Beiheft, so auch ein Bild der Urgroßtante Alders aus Odessa, das eindeutig für das CD-Cover Pate gestanden hat, auf dem sich Louise Alder in derselben Pose ablichten ließ.
Zwischentöne
All das erzählt schon viel über die Akribie und Liebe zum Detail, mit der sich die Sopranistin und ihr Begleiter Joseph Middleton ihrem Projekt widmen. 'The Russian Connection' ist in hohem Maße authentisch, weit entfernt von einem repräsentativem Best-Of-Gemenge, das selbstgenügsam den Hörer einlullen soll. Alder und Middleton schürfen tief, das hört man bereits bei den ersten Takten der einleitenden sechs Lieder von Sergej Rachmaninow. Voll und warm lässt Alder ihren Sopran aufglühen, spürt Zwischentönen nach und setzt im Verbund mit Middletons sensiblem Spiel eine klingende Keimzelle dessen, was kommen wird. Rachmaninow, der selbst mit seiner russischen Heimat haderte und sie schließlich für immer verließ, ist eine eindrückliche Wahl, um diese Melancholie behaftete Lied-Reise zu beginnen. Louise Alder zeigt sich auch sprachlich gewandt und unerschrocken – sie singt in dieser Liedauswahl gleich in vier Sprachen: Rachmaninow und später Britten erklingen auf Russisch, Sibelius auf Schwedisch, Tschaikowsky auf Französisch und Medtner und Grieg auf Deutsch.
Mit nicht weniger Leidenschaft als bei Rachmaninow widmen sich Alder und Middleton den nordischen Komponisten Jean Sibelius und Edvard Grieg. Besonders eindrücklich gelingen ihnen das berühmte 'Var det en dröm?' und 'Säv, säv, susa', in denen sie mit großer Schlichtheit und daraus resultierender Größe agieren. Das leicht Soubrettige in Alders Ton passt hier hervorragend, verleiht Sibelius‘ Liedern einen reizvollen Schimmer. Auch die sechs deutschsprachigen Lieder Griegs sind bei den Künstlern in besten Händen. Die weiten Bögen, das Nicht-Diesseitige in ‚Ein Traum‘ bleiben im Ohr haften. Middletons Klavierspiel ist von hörbarer Beredsamkeit. Er findet die wortlosen Ausdrücke, die in den Textzeilen nicht vorkommen, gönnt den Vor- und Zwischenspielen ihre Bedeutsamkeit, ohne aufdringlich zu sein. Das tiefe künstlerische Einverständnis von Alder und Middleton ist mit Händen greifbar. Elegant (und fast ein wenig als Fremdkörper) kommen die späten 'Sechs Lieder' op. 65 von Tschaikowsky daher. Sie schwanken zwischen Unbeschwertheit, Sehnsucht und Melancholie, rufen Tage zurück ins Gedächtnis, die längst vergangen sind.
Lied-Juwelen
Bevor sich mit Brittens Liederzyklus 'The Poet’s Echo' aus dem Jahr 1965 der Kreis schließt, blitzen zwei selten zu hörende Lied-Juwelen auf – zwei Goethe-Vertonungen von Nikolai Medtner: 'Mailied' und 'Meeresstille'. Bei letzterem übertrifft Alder die historische Einspielung mit Elisabeth Schwarzkopf und dem Komponisten am Klavier von 1950 allein durch ihre Natürlichkeit um Längen. Wie raffiniert Alder und Middleton mit Farben umzugehen verstehen, zeigt der eben erwähnte Zyklus von Benjamin Britten. Wieder singt Alder in russischer Sprache und sie jongliert mit der absoluten Konzentration der Mittel. Pausen werden zu Klangräumen, einzelne Sätze dieser Puschkin-Vertonungen sind so kunstvoll und doch mit großer Selbstverständlichkeit gebaut und phrasiert, dass man eigentlich den Atem anhalten müsste, um der Intensität und Aufrichtigkeit der Darbietung gerecht zu werden. Und hier greifen die Endpunkte der Familiengeschichte sinnfällig ineinander: Ein britischer Komponist des 20. Jahrhundert vertont russische Poesie des vergangenen Jahrhunderts. Dieses Album ist eine starke Visitenkarte für zwei außergewöhnliche Interpreten, die mit Leidenschaft, Klugheit und Fantasie ihre Kunst zu einem fesselnden Lied-Projekt kondensieren.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Lines written during a sleepless night: Louise Adler, Joseph Middleton |
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Label: Anzahl Medien: |
Chandos 1 |
Medium:
EAN: |
CD
095115215326 |
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Britten, Benjamin |
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Chandos Chandos Records was founded in 1979 by Brian Couzens and quickly established itself as one of the world's leading classical labels. Prior to forming the label, Brian Couzens, along with his son Ralph, worked for 8 years running a mobile recording unit recording for major labels (including RCA, Polydor, CFP, etc.) with many of the world's leading artists.
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