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Freitag, 22. September 2023

Michael Pelzel: Gravity's Rainbow - Ensemble Ascolta, Stuttgarter Kammerorchester, Ensemble Recherche

Make sound great again


Label/Verlag: Kairos
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Mit der CD 'Gravity's Rainbow' mit Kompositionen des Schweizers Michael Pelzel legt der Kairos-Verlag eine interessante, klangvolle Aufnahme vor, die am Ende viele Fragen offenlässt.

Mit neuer Musik, die dazu verführt oder geradezu zwingt genauestens hinzuhören, überrascht der Wiener Kairos-Verlag seit über 20 Jahren. Die im November 2019 erschienene Veröffentlichung mit Aufnahmen von verschiedensten Klangkörpern wie Jetpack Bellerive, dem Ensemble Ascolta, dem Ensemble recherche, der Basel Sinfonietta, dem Stuttgarter Kammerorchester oder dem WDR Sinfonieorchester Köln reiht sich in diese Tradition ganz im Wortsinn des griechischen Verlagsnamens gelungen ein. Gewidmet ist die CD den Kompositionen des 1978 in Rapperswil im Kanton St. Gallen geborenen Michael Pelzel.

Mit seinem ‚Amalgam-Klang‘, wie Pelzel die von ihm geschriebenen Laute nennt, schafft er es, die verschiedensten Instrumente zu einem großen Gesamtbild verschmelzen zu lassen. Dabei lösen sich Erstaunen und Langeweile über diese kompositorische Idee des Ineinander regelmäßig ab. 

Glockenklang mit indischen Einflüssen

Den ersten Eindruck zu Pelzels Schaffen liefert 'Mysterious Ajuna Bell', eine Auftragskomposition des Stuttgarter Kammerorchester und des Ensemble ascolta – von denen auch diese Aufnahme stammt – aus dem Jahr 2016 für Streichorchester und Ensemble aus Klavier, Trompete, Posaune, E-Gitarre, Cello und Schlagzeug. Zusätzlich zu diesen Instrumenten finden einzelne Orgelpfeifen Verwendung. Trotz oder gerade wegen dieser Zusammenstellung erscheint die Musik teilweise exotisch-fernöstlich, Vorlage für die Komposition waren sowohl die karnatische Musik Südindiens als auch Glockenchöre. Diese erklingen meist vielfältig und als große, gemeinsam schwingende Fläche. Dementsprechend wirkt der erste Teil des knapp 19-minütigen Werkes wie das Anschlagen einer Glocke, der zweite Teil soll das lange Ausschwingen darstellen, bei dem man versucht, bis zum Verklingen aller Schwingungen zuzuhören.

Das Zusammenspiel des Streichorchesters und des Ensembles, vor allem der E-Gitarre, ist zunächst gewöhnungsbedürftig und es fällt schwer, die von Pelzel intendierte Idee der Glocken zu verfolgen; entsteht doch die Frage, wie die Klänge überhaupt erzeugt werden. Doch die feinfühlige Interpretation unter der Leitung von Peter Rundel ermöglicht, sich in diese anfangs gewaltige (fast gewalttätige), dann empfindsame Komposition hineinziehen zu lassen. Ist dies jedoch geschehen, so wird das Erstaunen über die Klangvielfalt und -erzeugung vor allem in der zweiten Hälfte von der monotonen Ideengleichheit abgelöst. Dabei entsteht kein Sog durch immer wiederkehrende Repetition, wie es bei Minimal music der Fall ist; die Musik ist hierfür zu mächtig.

Klangvielfalt eines Trios

Bei 'Carnaticaphobia' präsentiert das Ensemble recherche die Klangvielfalt eines Trios. Teilweise ist es kaum zu glauben, dass all diese Schichten und Klänge von drei Personen und den Instrumenten Klavier, Cello und Schlagwerk erzeugt werden. Wie der Name vermuten lässt, steht auch hier die karnatische Musik im Zentrum der Komposition, die sich zunehmend verdichtet und die Grenzen des Ensembleklangs immer weiter auslotet, ohne sie jedoch schmerzhaft zu reizen. Die Wiederholung musikalischer Ideen und die Schichtung solcher bilden den Kern des Werkes – auch hier führt diese bisweilen dazu, dass die Gedanken abschweifen und die Musik in den Hintergrund rückt. Der Höhepunkt des etwa 16-minütigen Stückes wird nach knapp 12 Minuten erreicht, das Ausklingen danach stellt ein äußert interessantes Klangexperiment dar.

Konzert für Kontrabassklarinette extended und Orchester

Das namensgebende Stück der CD, 'Gravity’s Rainbow', ist ein mystisches Musikstück für Orchester und eine Kontrabassklarinette extended, kurz CLEX. Dank elektronischer Technik am Instrument können die Klappen dieser Klarinette an der akustisch besten Stelle angebracht werden und die Position ist nicht durch Größe der Hände des Spielenden limitiert. Daraus resultiert bei der CLEX ein Klang, der ganz ungewohnt, neu, tiefgehend ist und sich zwischen Klarinette, Saxophon und Tuba bewegt. Pelzel komponierte dieses Stück, um die Grenzen des Instrumentes zu erfassen und zu erproben und alle Klangmöglichkeiten zu erkunden. Der virtuose Solist Ernesto Molinaro mit seiner CLEX wird von der Basel Sinfonietta unter Peter Rundel begleitet und zeigt die Spannung zwischen der Macht der Anziehungskraft und der Leichtigkeit des Regenbogens, von den tiefsten Tiefen bis in schwindelerregende Höhen. Die 21 Minuten 'Gravity’s Rainbow' sind ein nervenaufreibendes, aber auch belohnendes Hörerlebnis, das von totalem Chaos hin zu sinnlicher Ordnung führt. Ein neues Erlebnis ist es allemal.

Passt die Katze in den Toaster?

Komponiert für und eingespielt von Jetpack Bellerive ist die 'Alf'-Sonata‘ eine Mischung aus Hommage an die TV-Serie Alf, einer Studie für das Duo Violine und Horn und einem musikalischen Klamauk in gewollt moderner Form. Die gewagteste Komposition auf dieser CD spielt mit der Erinnerung und der Verzerrung eines eingespielten musikalischen Zitates sowie dem rhythmischen Einsatz von Sprache und erneut der Auslotung von klanglichen Möglichkeiten. Noëlle-Anne Darbellay (Violine) und Samuel Stoll (Horn) bilden hierbei ein gelungenes Paar, das mit seinen Fähigkeiten überzeugt und diesem 8-minütigen Stück einen kurzweiligen und fesselnden Charakter verleiht.

Der Klang der Wassergläser

Das abschließende Werk der CD, 'Danse diabolique', beginnt mit einer vorangestellten Introduktion, die mit Bläser, Harfe, Orgel, Klavier und Schlagzeug versucht, den zu Beginn angeschlagenen Cluster-Klang von 32 Wassergläsern zu interpretieren und erforschen. Triller, Wellenbewegungen und hohe Flöten erzeugen dieses Vorspiel zum diabolischen Tanz. Dieser wartet dann tatsächlich mit einem düsteren, angsteinflößenden Dreiertakt auf, der mit tiefgehender Wucht ergreift und gewollt erschreckt. Einige motivische Einwürfe erklingen, bilden jedoch kein Gesamtbild mehr: der Teufel zerreißt hier alles, das WDR Sinfonieorchester unter Bas Wiegers reibt auf und lässt den Hörer vor einem Trümmerhaufen stehen.

Allgemein ist die komplette CD eine musikalische Herausforderung, die Fragen aufwirft und mitunter sehr emotionale Reaktionen hervorrufen mag. Liegen die ersten drei Stücke zwischen Meditation und Langeweile, so rüttelt vor allen Dingen 'Danse diabolique' auf und beunruhigt. Michael Pelzels Komponieren wird auf dieser Aufnahme als eine Suche dargestellt, die Grenzen ausloten und überschreiten will: Grenzen des Klanges, Grenzen des Instrumentes, Grenzen der Formen und Grenzen der Ensembles. Wer lieber das Gewohnte mag und sich innerhalb seiner Grenzen wohlfühlt, sollte nicht zu dieser Platte greifen. Für jeden, der gerne über den Tellerrand schaut und von Musik auch aufgeschreckt werden mag, sollte sich mit 'Gravity’s Rainbow' auseinandersetzen, denn eine Auseinandersetzung ist es allemal.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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    Michael Pelzel: Gravity's Rainbow: Ensemble Ascolta, Stuttgarter Kammerorchester, Ensemble Recherche

Label:
Anzahl Medien:
Kairos
1
Medium:
EAN:

CD
9120040732271


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