
Piano Masterpieces - Shura Cherkassky, Berliner Philharmoniker, Philharmonia Orchestra, London Philharmonic Orchestra
Perlen unter Gemischtwaren
Label/Verlag: Profil - Edition Günter Hänssler
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Aus der nicht geringen klingenden Hinterlassenschaft des faszinierenden Pianisten Shura Cherkassky sind in dieser 10-CD-Auswahl viele hervorragende neben einigen fragwürdigen Taten dokumentiert. Fragwürdig ist aber letztlich auch die Präsentationsweise.
Über Shura Cherkassky kann und sollte man im Rahmen einer solchen 'Masterpieces'-Edition viel mehr schreiben, als es Jan Gärtners liebloser, oberflächlicher Einführungstext von noch nicht einmal einer Seite tut: Wohl 1909 in Odessa geboren – die gelegentlich begegnende eigene Datierung auf zwei Jahre später diente wohl einem Wunderkind-Status – und 1995 nach einer lebenslangen Odyssee durch Konzertsäle und Hotelzimmer (als zeitweise sogar festem Wohnsitz) in London gestorben, vertrat dieser gerade im greisen Alter so außergewöhnlich musizierende Weltbürger eine noch völlig im 19. Jahrhundert verwurzelte Aufführungsästhetik. In dieser dürfte ein von Gärtner diffus angeführter ‚Werktreue‘-Begriff oder vielmehr Cherkasskys Verständnis davon keineswegs auf eine historische oder ideelle Bedingtheit und Identität der gespielten Musik abgezielt haben, sondern auf deren ganz aktuelle Verlebendigung als Prozess der unmittelbaren Identifikation und Spiellaune des Interpreten mit keineswegs immer buchstabengetreu befolgten Notentextvorlagen. Auch darin kann eine werkgerechte, aber vor allem immer individuelle, den Spielenden in seiner Eigenart deutlich einbeziehende Vermittlung liegen, und das führen viele der hier versammelten Aufnahmen auch vor.
Dokumentiert ist – wie bei solchen preiswerten Editionen üblich – ein inzwischen urheberrechtsfreier Zeitraum ohne die etwa bei den Labeln Decca und Nimbus veröffentlichten, oft ebenfalls ganz eigentümlichen und faszinierenden Spätaufnahmen und Rundfunkmitschnitte der 1970er bis 1990er Jahre. Cherkassky war gewissermaßen ein Label-Vagabund ohne längerfristige Exklusiv-Verträge, und enthalten sind hier zumindest seine gut bekannten und verbreiteten Aufnahmen für die Deutsche Grammophon (die beiden ersten Tschaikowsky-Konzerte von 1952/55 und Liszts 'Ungarische Fantasie' in einer orchestral ziemlich behäbig-plakativen Aufnahme mit Herbert von Karajan) sowie für Budget-Label oder Schallplatten-Clubs der britischen HMV-EMI-Produktionsmaschine bis hinein in die Stereo-Ära der frühen 1960er Jahre. Eine übliche Koppelung der Konzerte von Grieg und Schumann, 1965 würdig und farbig begleitet von Adrian Boult, bildet den zeitlichen Abschluss. Aus Cherkasskys Anfangszeit in den USA ab 1923 – im Alter von ungefähr 13 Jahren erst um Unterricht bei Rachmaninow bemüht, dann ab 1925 (bis 1938) als Protegé von Josef Hofmann – sind auf der zehnten und letzten CD einige Zeugnisse dabei: von Beethovens 'Ecossaisen' (tatsächlich 1923) bis hin zur 1934 eingespielten Cello-Sonate von Rachmaninow mit Marcel Hubert. Darunter findet sich auch mit einem 'Prélude Pathétique' eine frühe Eigenkomposition, 1928 mit einigen Mendelssohn-Stücken eingespielt und wie der gesamte historisch ältere Teil im THS-Studio Dormagen digital ansprechend aufbereitet.
Eine Zerschlagung der diskographischen Ordnung
Bis auf diese letzte CD, die gewissermaßen das Frühstadium des Pianisten hinreichend dokumentiert, mangelt es dieser Hänssler-Edition allerdings gravierend an historischem Bewusstsein oder Interesse: Einige bereits bei anderen Labeln in sich geschlossen publizierte Rundfunk- und Live-Mitschnitte wie die WDR-Aufnahmen 1953, ein Salzburger Festspiel-Mitschnitt von 1961 oder das vielfach auch auf CD-Grabbeltischen von Billig-Labeln verbreitete Konzert in Lugano im Dezember 1963 sind gnadenlos seziert und auf mehrere nach Komponisten und Stilrichtungen zusammengestellte CDs verteilt worden. Einerseits gehen dadurch Aspekte künstlerischer Genese und interpretatorischer Geschlossenheit verloren, andererseits wechselt das alters- und lokationsbedingte Klangbild etwa in den Chopin- und Russen-Aufnahmen abrupt. Hinzu kommt wie bei Profil-Hänssler auch anderorts leider üblich, dass zudem die Aufnahmen diskographisch mit Angabe von Jahr und nur gelegentlich Ort bloß rudimentär und teilweise sogar falsch ausgewiesen werden (Track 1 der frühen Aufnahmen auf CD 10 ist eine Doublette des Chopin-Walzers von Track 5, das angegebene 'Jägerlied' Mendelssohns erklingt stattdessen als Track 2, der im Booklet gar keine vernünftige Angabe besitzt). An editorischer Sorgfalt ist den Machern hier offenbar nicht gelegen.
Eine verlässliche Cherkassky-Diskographie zur Nach-Recherche findet sich übrigens auf der Seite 'pianistdiscography.com' (http://pianistdiscography.com/discography/pianist.php?PIANIST=12, Stand: 03/2019). Cherkassky-Fans werden wahrscheinlich sowieso die meisten Original-Koppelungen u. a. aus der Reihe 'Orfeo-d‘or' haben und so die konzertanten Zusammenhänge kennen – möglicherweise hat sogar manch einer Interesse, nun die Liszt- und Chopin-Koppelungen über Jahre hinweg am Stück zu hören. Die Edition zielt dadurch vielmehr darauf, einem weniger historiographisch interessierten Publikum ein breites und buntes Kennenlernen des außergewöhnlichen und mitunter diskussionswürdigen Interpretationsstils zu ermöglichen. Wobei die derzeitigen Preise von über 30 Euro für die Audio-CD-Version, gemessen an vergleichbaren ‚historischen‘ Serien etwa der Intensemedia-Documents-Reihe, eher zu hoch ausfallen.
Lyrische Poetik und virtuose Show-Mentalität
Bei Cherkassky müsste man eigentlich ganz genau evaluieren, welche Aufnahmen eine solche Verbreitung lohnen. Seine DGG-Aufnahmen sind es jedenfalls trotz ihrer Präsenz auf dem Plattenmarkt nicht, was vor allem an den Dirigenten liegt: Liszts 'Ungarische Fantasie' gerät 1960 bei Karajan – wie auch die rein orchestralen 'Ungarischen Rhapsodien' von 1975, mit denen die DGG sie anbietet – wirklich zu Konfektionsware für ein nicht ganz geschmackssicheres Wunschkonzert-Publikum, in welchem Cherkassky bei aller selbstverständicher Solo-Brillanz fast etwas zu zurückgenommen und untergeordnet wirkt. Und die beiden Tschaikowsky-Konzerte sind ebenfalls von eher uninspirierten Dirigaten (Leopold Ludwig und Richard Kraus) gekennzeichnet, die hier Cherkasskys Neigung zu launigem, eher nur punktuell beeindruckendem Effekt-Patchwork jenseits eines übergeordneten Flusses verstärken (die lange Solo-Kadenz im zweiten Konzert ist allerdings grandios). Die schon etwas breiigen, das Klavier ganz unangenehm unterschiedlich laut aussteuernden Digital-Abmischungen der früheren Veröffentlichung in der mir vorliegenden Philips-Great-Pianists-Reihe (und wohl parallel auch der DGG-Originals-Serie) hören sich im sonst eher ansprechenden Remastering von Holger Siedler (THS-Studio) auch nicht besser an, sondern wirken fast noch mehr digital aufgeplustert. Wertvoller und spannender erscheinen mir die erstmals 2009 auf dem kleinen Label First Hand wiederveröffentlichten HMV-Aufnahmen wie auch die Konzerte von Liszt (Nr. 1), Prokofjew (Nr. 2) und Schostakowitsch (Nr. 1) aus dem ‚Tschaikowsky‘-Zeitraum 1952 bis 1955 mit dem Philharmonia Orchestra. Hier wie später in der Schumann-Grieg-Aufnahme mit Boult entsteht wirklich Teamwork zwischen Pianist und Dirigent/Orchester. Cherkassky gelingt es hier viel besser, seine nur selten spürbar als Selbstzweck zur Schau gestellte virtuose Brillanz und vor allem seine lyrische Poetik in einen Dialog mit dem Orchester einzubetten (gerade das Liszt-Konzert enthält auch dank der Orchestersolisten hier bezaubernde Momente).
Schwankende Qualität der Live-Aufnahmen
Diese Poetik eines runden, plastischen Anschlags in unglaublichen Nuancen gerade in der kantablen Phrasierung kennzeichnet sowohl nahezu alle Chopin- und Liszt-Aufnahmen – herausragend hier etwa die im Studio aufgenommene 'Faust-Paraphrase' oder die 'Polonaise' op.44 – als grundsätzlich auch Cherkasskys fantastische Schumann-Exegesen. Eine 1961 live in Salzburg wunderbar ausgeleuchtete C-Dur-Fantasie steht hier der Ersten Klaviersonate aus Lugano gegenüber, in welcher Cherkassky nach einigen Tippfehlern hörbar zunehmend die Sicherheit und Lust der Wiedergabe verliert – ein problematisches Artefakt. Dass das Konzert 1963 in Lugano trotzdem kein schlechtes war, machen wiederum Strawinskys 'Pétroushka'-Sätze und das in punkto Sanglichkeit auf dem Klavier beeindruckende 'Andante & Rondo capriccioso' op.14 von Mendelssohn deutlich. Mussorgskys 'Bilder einer Ausstellung' zeigen wiederum den Pianisten als in der Wahl seiner Mittel nicht immer unbescheidenen und glücklichen Manieristen, den man in dieser Version nicht unbedingt mögen muss. Barbers 'Exursions' (Salzburg 1961) und Abram Chasins 'Three Chinese Pieces' stellen zudem Raritäten aus doppelter Meisterhand dar. Es gibt trotz mancher editorischer Einwände also musikalisch gerade für Hörer, die den ‚jungen bis mittleren‘ Cherkassky noch nicht gehört haben, einiges zu entdecken in dieser Edition.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Piano Masterpieces: Shura Cherkassky, Berliner Philharmoniker, Philharmonia Orchestra, London Philharmonic Orchestra |
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Label: Anzahl Medien: |
Profil - Edition Günter Hänssler 10 |
Medium:
EAN: |
CD
881488180374 |
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