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Sonntag, 26. März 2023

Reznicek, Emil Nikolaus von - Benzin

Verspätete Uraufführung


Label/Verlag: cpo
Detailinformationen zum besprochenen Titel


Die Ouvertüre zu Emil Nikolaus von Rezniceks Oper 'Donna Diana' ist bekannt. Aber seine Oper 'Benzin' von 1929, eine moderne Odysseus/Circe-Adaption?

Das mit dem Opernschaffen von Emil Nikolaus von Reznicek (1860-1945) ist so eine Sache: Vermutlich kennen die allermeisten die Ouvertüre zu seiner Widerspenstigen-Zähmung-Oper 'Donna Diana', 1894 in Prag uraufgeführt und dank der späteren Zweitverwertung in der TV-Sendung 'Erkennen Sie die Melodie?' unsterblich geworden. Aber die anderen Opern – von den Sinfonien, Tondichtungen, Schauspielmusiken usw. ganz zu schweigen – sind nicht im allgemeinen Gedächtnis hängen geblieben, nicht mal als Stücktitel. Auch das 1929 komponierte ‚heiter-phantastische Spiel mit Musik in zwei Akten‘ mit Titel 'Benzin' ist ein großes Fragezeichen. Es wurde erst 2010 in Chemnitz uraufgeführt, nachdem das Notenmaterial über diverse Weltkriegsumwege in der Nationalbibliothek Wien gefunden worden war. Von dieser Uraufführungsproduktion liegt nun eine verspätete CD-Ausgabe vor, die in Zusammenarbeit des Theaters Chemnitz mit Deutschlandfunk Kultur, mdr Kultur und cpo erschienen ist. Die Doppel-CD lädt mit 93 Minuten Musik zu einer Entdeckungsreise ein.

Diese Reise wird dem Hörer besonders einfach gemacht durch einen fundierten Booklet-Essay von Michael Wittmann, der alle nur denkbaren Fragen (er)klärt. Da wäre zum Beispiel die, worum es überhaupt geht bei diesem Stück – um eine Wirtschaftssatire oder um ein texanisches Ölförderungsfamiliendrama wie 'Giganten'? Wittmann zitiert aus Rezniceks unveröffentlichten Memoiren (1941), wo es heißt: ‚Benzin [basiert auf einem] Buch, das ich selbst verbrochen habe. Dort gibt es eine Gladys, Tochter eines amerikanischen Milliardärs und Circe-Figur, die durch hypnotische Kraft allen Männern das Bewusstsein suggeriert, in Tiere verwandelt zu sein. D.h. sie behalten menschliche Gestalt, empfinden aber wie die betreffenden Tiere, verlieren die Sprache, grunzen, wiehern, bellen usw. Diese Dame, die natürlich eine Schönheit ist, bewohnt eine vor kurzem aus dem Ozean, durch die Eruption eines unterirdischen Vulkans emporgestiegene Insel, die noch nicht auf der Landkarte steht. Die entdeckt der Flugzeugführer Ulysses Eisenhardt, dem auf seinem Weltumfliegungsweg das Benzin ausgegangen ist und er landet. Selbstverständlich ist er ein willkommenes Fressen für die edle Gladys. Sie verwandelt in der oben genannten Weise alle seine Leute in Viecher, aber – bei ihm missglückt es – er ist stärker als sie und bleibt Mensch. Gladys versucht all ihre teuflischen Künste, um ihn klein zu kriegen – vergeblich. Er muss aber abfliegen, denn wenn er nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt an dem Ort des Abfluges zurück ist, ist sein Rekord gescheitert, er ist blamiert und verliert infolge der hohen Wetten, die er abgeschlossen hat, sein Vermögen. Als er aber Gladys um das für die Rückkehr erforderliche Benzin ersucht, beißt er auf Stein: Jetzt hofft sie ihn klein zu kriegen. Er geht zu ihr mit dem Revolver in der Tasche. Sie glaubt, er wolle sie erpressen und als er die Waffe hervorholt, sie erschießen. Er aber führt das Schießeisen an seine Schläfe. Jetzt klappt sie zusammen, denn sie hat sich natürlich mittlerweile in ihn verliebt. Und so ist denn alles in Butter und sie kriegen sich. Der alte Milliardär ist auch gekommen. Er hatte auf den Weltflug des Ulysses ebenfalls Millionen gewettet, gibt seinen Segen und die ganze Gesellschaft fliegt vergnügt nach New York zurück. (Vorhang.)‘

Jazz der 1920er-Jahre

Das klingt zum Teil nach einer wunderbar absurden Operettengeschichte rund um ein Sie-hassen-sich-sie-lieben-sich-Paar in bester 'Lippen schweigen'-Manier. Es klingt auch nach surrealer Zeitoper und nach Slapstick à la Buster Keaton. Die Musik, die Reznicek komponiert, macht vielfach Gebrauch vom neuen Jazz-Idiom der 1920er-Jahre, ohne dass man behaupten könnte, es wäre eine moderne synkopierte Partitur, vergleichbar mit der widerspenstigen Milliardärstochter in Emmerich Kalmans 'Die Herzogin von Chicago' (1928) oder mit Ernst Kreneks 'Jonny spielt auf' (1927). Auch von Paul Abrahams exotischer Jazz-Radikalität ist Reznicek weit entfernt: Statt der ganz großen Überwältigung einer 'Blume von Hawaii' (1931) bleibt das Geschehen aus dieser Vulkaninsel-im-Nirgendwo eher spielopernhaft zahm. Obwohl man die Hollywoodanklänge hört, ebenso die Könnerschaft Rezniceks in der Instrumentation. Trotzdem pustet im Zweifelsfall Abraham all diese Könnerschaft mit einem einzigen Hawaiigitarrenglissando weg – er war’s dann auch, der mit seiner 'Blume' den größten Musiktheatererfolg der Weimarer Republik produzierte, nicht Reznicek. (Und auch nicht Krenek.)

Vielleicht liegt es an der Besetzung der Chemnitzer Aufführung, dass sich ein eigener überzeugender Reiz der Geschlechterkampfgeschichte nur schwer einstellt: Denn alle Darsteller rund um Sopran Johanna Stojkovic als Gladys und Tenor Carsten Süss als Ulysses singen viel zu sehr Noten, statt griffige und plastische (und unterhaltsame) Charaktere zu formen. Was besonders in den vielen (langweiligen) Rezitativen auffällt. In ihnen steckt ganz sicher mehr Wirkungspotenzial, wenn ein Studienleiter sich trauen würde, mit dem Material radikaler umzugehen. Schließlich gibt’s für 'Benzin' bislang keine Aufführungstradition, man ist als Produktionsteam also frei, selbst neue Wege zu probieren und neue Pfade vorzugeben. Dafür braucht es mehr Fantasie!

Die reinen Orchesterpassagen klingen brillant und entfalten große Schönheit, etwa das kurze 'Notturno' am Ende des zweiten Akts, das es mit Richard Strauss und seiner Mondscheinmusik in 'Capriccio' jederzeit aufnehmen könnte. Auch spielt die Robert-Schumann-Philharmonie unter Dirigent Frank Beermann vorzüglich.

Dass dieses Werk 1929 niemand aufführen wollte, könnte neben den von Michael Wittmann im Booklet angeführten Gründen auch daran gelegen haben, dass damals andere Komponisten bessere Klangwelten und zeittypischere Geschichten fürs Musiktheater geschaffen haben. Trotzdem passt 'Benzin' gut in die aktuelle Welle der Wiederentdeckungen von Weimarer-Republik-Titeln und -Themen: von Spolianskys 'Alles Schwindel' am Berliner Gorki Theater über Oscar Strauss und Paul Abraham an der Komischen Oper bis zum TV-Serien wie 'Babylon Berlin'.

Bemerkenswerte Erweiterung des Repertoires

Anfang 2018 hat auch die Oper Bielefeld sich an 'Benzin' versucht und bekam dafür teils vernichtende Kritiken; die Rezensionen zur Chemnitzer Produktion waren übrigens auch nicht gerade überschwänglich. Trotzdem kann dieses wiederentdeckte Patchwork-Werk faszinieren, denn mit den absurden divergierenden Elemente lädt es auf vielen Ebenen zu einer schillernden Umsetzung ein. Vielleicht braucht’s da jemanden, der so radikal wie Christian Weise im Fall des Spoliansky-Revivals rangeht, um auch ein Reznicek-Revival in Gang zu bringen. Es braucht auf alle Fälle andere Darstellertypen, die sich vom reinen Stadttheaterschöngesang trennen können und bewusster in die Bereiche Operette, Musical und Kabarett vorstoßen, die Rezneck hier auch komponiert hat. Mit reiner Notentreue kommt man bei dieser Odysseus/Circe-Neuinterpretation jedenfalls nicht weit.

So bleibt eine in jeder Hinsicht vorbildliche cpo-Ausgabe, die auch das vollständige Libretto auf Deutsch und Englisch im Booklet enthält. Und wie gesagt, der Essay von Wittmann lädt dazu ein, sich überhaupt über Reznicek neu Gedanken zu machen, auch zu seiner Zeit im Nationalsozialismus. (Wittmann räumt hier überzeugend mit vielen Vorurteilen und Legenden auf.) Schlussendlich fehlt 'Benzin' der alles mitreißende Schwung der 'Donna Diana'-Ouvertüre. Wer genau diesen Schwung erwartet, sollte die Finger von der Aufnahme lassen, die gar keine Ouvertüre hat. Wer allerdings das aufregende Bild des Musiktheater der 1920er-Jahre um eine bemerkenswerte Nuance erweitern will, ist hier goldrichtig.

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert: 
Booklet:





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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:



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    Reznicek, Emil Nikolaus von: Benzin

Label:
Anzahl Medien:
Veröffentlichung:
Spielzeit:
cpo
2
20.11.2017
93:09
Medium:
EAN:
BestellNr.:

CD
761203765324
cpo 777 653-2


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Dirigent(en):Beermann, Frank
Orchester/Ensemble:Robert-Schumann-Philharmonie
Interpret(en):Räsänen, Kouta
Stojkovic, Johanna
Yang, Guibee
Thielemann, Susanne
Penttinen, Tiina


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cpo

Wohl kaum ein zweites Label hat in letzter Zeit soviel internationale Aufmerksamkeit erregt wie cpo. Die Fachwelt rühmt einhellig eine überzeugende Repertoirekonzeption, die auf hohem künstlerischen Niveau verwirklicht wird und in den Booklets eine geradezu beispielhafte Dokumentation erfährt. Der Höhepunkt dieser allgemeinen Anerkennung war sicherlich die Verleihung des "Cannes Classical Award" für das beste Label (weltweit!) auf der MIDEM im Januar 1995 und gerade wurde cpo der niedersächsische Musikpreis 2003 in "Würdigung der schöpferischen Leistungen" zuerkannt.
Besonders stolz macht uns dabei, daß cpo - 1986 gegründet - in Rekordzeit in die Spitze vorgestoßen ist. Das Geheimnis dieses Erfolges ist einfach erklärt, wenn auch schwierig umzusetzen: cpo sucht niemals den Kampf mit den Branchenriesen, sondern füllt mit Geschick die Nischen, die von den Großen nicht besetzt werden, weil sie dort keine Geschäfte wittern. Und aus mancher Nische wurde nach einhelliger Ansicht der Fachwelt mittlerweile ein wahres Schmuckkästchen.
Am Anfang einer Repertoire-Entscheidung steht bei uns noch ganz altmodisch das Partituren-lesen, denn nicht alles, was noch unentdeckt ist, muß auch auf die Silberscheibe gebannt werden. Andererseits gibt es - von der Renaissance bis zur Moderne - noch sehr viele wahre musikalische Schätze zu heben, die oft näher liegen, als man meint. Unsere großen Werk-Editionen von Pfitzner, Korngold, Hindemith oder Pettersson sind nicht umsonst gerühmt worden. In diesem Sinne werden wir fortfahren.
Letztendlich ist unser künstlerisches Credo ganz einfach: Wir machen die CDs, die wir schon immer selbst haben wollten. Seien Sie herzlich zu dieser abenteuerlichen Entdeckungsfahrt eingeladen!


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