
Mainstream - Klangströme und Stromklänge - Orgelwerke von Bach, Lang, Lemare, Vierne, Hollins u.a.
Mainstream für wen?
Label/Verlag: organo phon
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Mainstream heißt es, wenn Musik einem größeren Pulikumsgeschmack entspricht. Aber auch der Main ist ein Strom. Die vorliegende CD macht sich diesen Doppelsinn zunutze.
Der Titel dieser CD ist versteht sich doppeldeutig: Zunächst ist an den Mainstream gedacht, also an Kompositionen, die einen breiten Publikumsgeschmack treffen. Dann aber bezieht sich der Titel auch auf den Standort der Orgel, nämlich Frankfurt am Main. So vereinigt diese Aufnahme Kompositionen, die sehr hoch in der Gunst des Publikums stehen oder doch stehen könnten, mit Stücken, die den Main zum Thema haben oder doch wenigstens einen Fluss. Sie werden dargeboten auf der Klais-Orgel des Kaiserdoms St. Bartholomäus von 1957, restauriert 1994. Außer der Hauptorgel ist vom gleichen elektrischen Spieltisch aus die Chororgel von Klais aus dem Jahre 1994 spielbar. Der Organist ist Dommusikdirektor Andreas Boltz, der auch mit einer eigenen Komposition vertreten ist.
Den Beginn macht Toccata und Fuge d-Moll von Johann Sebastian Bach als das Orgelwerk, das wohl den höchsten Bekanntheitsgrad aller Orgelstücke besitzt. Dass es außerdem wirkungsvoll die Virtuosität des Organisten ins Rampenlicht hebt, sei nur am Rande vermerkt. Bereits bei diesen ersten Klängen wird eine grundsätzliche Schwäche dieser Aufnahme hörbar: Das ist der Hall. Jede Aufnahme von Orgelmusik muss sich entscheiden, was im Vordergrund stehen soll, das Instrument oder der Raum. Bei einem so engagierten Programm wie dem vorliegenden muss es unbedingt die Orgel sein; das ist hier nur mit deutlichen Abstrichen gelungen. So ist alles, was von der Ausführung der Stücke zu sagen ist, unter den Vorbehalt gestellt: wenn das zu Hörende nicht im Hall ertrinkt.
Der Organist geht Toccata und Fuge eher konventionell an. Das einmal eingeschlagene Tempo wird durch die ganze Toccata eingehalten. Das hat seinen eigenen Reiz und hebt sich ab von den vielen Einspielungen, die der historisch informierten Aufführungspraxis folgend jede Wendung des Stückes mit einem Ritardando hervorheben. Die Toccata erklingt so in einer großen Geschlossenheit, die sicher gern gehört wird. Ähnliches ist von der Fuge zu sagen. Die noch eher bescheidenen kontrapunktischen Künste des Komponisten haben es natürlich schwer in dem Sfumato des Raumes. Immerhin wird hörbar, dass der Organist Wiederholungen im Klang variiert – ob dies durch Registerwechsel oder durch eine andere Artikulation geschieht, ist nicht oder nur schwer erkennbar; ich tippe auf einen Wechsel in der Artikulation. Der Schlussteil der Fuge wird dann mit der gehörigen Virtuosität präsentiert. Hier wird dann auch das Tempo variiert, Stauungen ergeben sich, Beschleunigungen, die dann schließlich in den Schlussakkord münden. Das alles wird in großer technischer Perfektion gespielt; selbstverständlich sind die Grenzen, die dem Organisten möglichweise gesetzt sind, noch nicht einmal im Entferntesten berührt.
Schönes Zungenregister
Die Bach-Programmatik geht weiter mit dem berühmten Choralvorspiel 'An Wasserflüssen Babylon' – es ist zwar nicht der Main, der hier dargestellt ist, sondern, dem Psalm 137 folgend, es sind die Flüsse des antiken Babylon. Es handelt sich nicht um die fünfstimmige Version mit Doppelpedal, sondern um die vereinfachte vierstimmige Fassung aus der Weimarer Zeit, später um einige Takte erweitert. Der Cantus firmus liegt im Tenor und wird vom Organisten mit einem sehr schönen Zungenregister wirkungsvoll hervorgehoben. Die begleitenden Stimmen werden zuverlässig und flexibel dargeboten – eine gute, stimmige Version erklingt. Es folgt eine publikumswirksame Komposition von Craig Sellar Lang (1891–1971), völlig unberührt von den musikhistorischen Entwicklungen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, einfach ein schön anzuhörendes Spielstück.
Anders verhält es sich schon mit der Komposition von Andreas Boltz 'Es führt über den Main'. Es handelt sich um acht Variationen des Liedes von Felicitas Kukuck. Die Komposition stellt verschiedene Personengruppen dar, die die Brücke über den Main passieren und dabei tanzen müssen. Es sind sehr bildhafte Miniaturen, die aneinandergereiht werden; in der letzten Variation sind sie alle noch einmal kurz vertreten. Die Möglichkeiten der großen Orgel werden bildhaft vorgestellt. Die Tonsprache verlässt den Raum der Tonalität nicht. Sie erinnert bisweilen an Paul Hindemith. Dem folgt wieder ein Lieblingsstück des Publikums, die Toccata aus der Sinfonie Nr. 5 von Charles-Marie Widor. Es beginnt in einer sehr hellen Registrierung, die dann aber recht bald durch schweres Pedal ausgeglichen wird. Auch in dieser Interpretation ist es ein mitreißendes Stück, das seine Wirkung nicht verfehlt. Edwin Lemare mit einer Bearbeitung von 'Suwanee River' (sic!) folgt, dann wieder ein musikalisches Schwergewicht: 'Wachet auf, ruft uns die Stimme' von Johann Sebastian Bach aus den Schüblerschen Chorälen. Die begleitenden Stimmen werden sehr schön artikuliert, der Cantus firmus wird wieder mit einer dezenten Zunge registriert. Das Tempo scheint mir den Raum etwas zu überfordern; so hat man das Gefühl, dass das Pedal stets ein wenig hinter den Manualstimmen hinterherhinkt. Die Bässe setzen sich eben langsamer durch als die hohen Stimmen. Hier hätte die Tontechnik wohl etwas ausgleichen können.
Breit dahinfließender Rhein
Dann fließt der Rhein in das CD-Programm, und zwar in der Version von Louis Vierne ('Sur le Rhin'). Dargestellt wird der träge und breit dahinfließende Strom. Spieltechnisch gibt es kaum Herausforderungen besonderer Art, das Tempo ist gemäßigt, der Raum tut dem Ganzen keinen Abbruch. Die Registrierung reagiert flexibel und einfühlsam auf das musikalische Geschehen. Anderes ist von dem Air aus der dritten Orchestersuite von Bach, bearbeitet von Sigfrid Karg-Elert, zu berichten. Es stellt sich sowieso die Frage, warum man immer wieder auf Bearbeitungen Bachscher Instrumentalwerke für die Orgel trifft; das Bachsche Orgelschaffen ist so reich, dass es dessen überhaupt nicht bedarf. Aber nun, das Air ist natürlich äußerst beliebt. Ob es das aber auch wäre in dieser sehr säuselnden Interpretation, darf kühnlich bezweifelt werden, zumal der Raum die Feinheiten erbarmungslos verschluckt. Da mutet es schon wie eine Erlösung an, wenn der Choral 'Christ unser Herr zum Jordan kam' von Bach folgt und den Hörer mit Wellenbewegungen hin zum Fluss führt. Der Cantus firmus, ist, es überrascht nicht mehr, mit einer Zunge hervorgehoben. Die Qualitäten des Bachspielers Boltz, die schon in den anderen Chorälen hörbar wurden, sind auch hier wieder zugegen. Die Horizontaltrompeten dürfen in Alfred Hollins 'A Trumpet Minuet' glänzen; auch hier agiert der Komponist, der von 1865 bis 1942 lebte, völlig unbeeindruckt von den musikalischen Entwicklungen seiner Zeit.
Anders verhält es sich natürlich mit Paul Hindemith. Von ihm gibt es immerhin drei Orgelsonaten, aber die befassen sich nicht mit fließendem Wasser. Aber da gibt es ja noch die Klaviersonate 'Der Main' – also wird sie flugs für Orgel bearbeitet, zumindest der vierte Satz. Der Komponist wurde durch das Gedicht 'Der Main' von Friedrich Hölderlin zu seiner Sonate angeregt. Sie entstand 1936, also in einer Periode, die die erweiterte Tonalität auf beinahe klassizistisch anmutende Weise anwendet. In der originalen Sonate schließt der Satz im piano mit der Maßgabe, den fünften Satz gleich anschließend zu spielen – den bleibt Andreas Bolz uns schuldig. Er spielt den Satz Hindemiths ohne größere hörbare Veränderungen; die Dynamik stellt er durch Registerwechsel dar. Es zeigt sich, dass der Satz in dieser Version durchaus orgelgemäß klingt. Am Ende der CD darf die Orgel noch einmal brillieren in 'Carillon de Westminster', wieder dem Publikumsgeschmack gehuldigt, von Louis Vierne. Es ist auch sehr geeignet, ein Programm wie dieses abzuschließen, zumal es mitreißend musiziert wird. Am Schluss habe ich den Nachhall gemessen: Es sind zwischen acht und neun Sekunden.
Es fragt sich, für wen diese CD gedacht ist. Natürlich wird sie den Freunden der Klais-Orgel in Frankfurt am Main gefallen, auch die Besucher der Konzerte Andreas Boltz‘ werden ihre Freude daran haben. Ansonsten krankt das Unternehmen an der doppelten Struktur – das Altbekannte hat der Sammler bereits mehrfach in verschiedensten Versionen, ich nenne nur Helmut Walcha und Ton Koopman bei Bach und Marie Claire-Alain bei den Franzosen. Die unbekannteren populären Werke können den engagierten Hörer kaum begeistern; dazu sind sie zu rückwärtsgewandt. Die Werke, die sich mit dem Main oder mit Flüssen schlechthin befassen, sind zum Teil in einer Tonsprache gehalten, die einen Hörer kaum anspricht, der die populären Werke goutiert. Wenn Andreas Boltz eine CD einspielen würde, die sich programmatisch eindeutig mit dem Main oder mit Flüssen befassen würde und die außerdem direkter, mit deutlich weniger Hall aufgenommen wäre, ich zweifle nicht daran, dass eine in jeder Hinsicht hörenswerte CD entstehen würde.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Mainstream - Klangströme und Stromklänge: Orgelwerke von Bach, Lang, Lemare, Vierne, Hollins u.a. |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: Spielzeit: Aufnahmejahr: |
organo phon 1 13.12.2017 74:39 2017 |
Medium:
EAN: Booklet |
CD
4034313901514 |
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Bach, Johann Sebastian |
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"Neue CD MAINSTREAM des Dommusikdirektors Andreas Boltz, aufgenommen an den Klais-Orgeln im Frankfurter Kaiserdom. Sie verknüpft Kompositionen, die inhaltlich mit Flüssen - vor allem dem Main, der die Stadt Frankfurt durchfließt - in Verbindung stehen (Jordan, Euphrat und Tigris Wasserflüsse Babylon, Suwanee River, Rhein) mit Werken, welche als allgemein Bekannte und Beliebte unter dem Begriff "Mainstream" zu begreifen sind. Darunter sind Orgelwerke von Johann Sebastian Bach, Charles-Marie Widor, Louis Vierne, Alfred Hollins, Henry Lemare sowie auch ein Beitrag von Andreas Boltz, eine Variationsfolge über die Volksweise "Es führt über den Main"." |
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Badische Zeitung: "Alles im Fluss Der Organist Andreas Boltz und seine CD "Mainstream" von Johannes Adam "Dommusikdirektor Andreas Boltz interpretiert an den beiden Klais-Orgeln eine das Bekannte ohne Anbiederung aufgreifende Mischung. [...] Dazu gibt es scharfe Silbrigkeit, Klangrausch, Überwältigung. Kraftvoll die 32-Fuß Bombarde beim Doppelpedal-Auftritt. [...] Insgesamt nutzt Boltz die Klais-Instrumente des Kaiserdoms sehr geschickt." |
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organo phon Organo phon - Classical Artists Records ist ein bei der Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten (GVL) gemeldetes Label, das sich mit Einspielungen von Orgelmusiken in den vergangenen Jahren einen hervorragenden Ruf erworben hat. In jüngster Zeit wird die Angebotspalette durch Klavier- und Orchesterproduktionen ergänzt. Modernste mobile technische Voraussetzungen ermöglichen Aufnahmen an jedem Ort im In- und Ausland. Um höchsten Qualitätsansprüchen gerecht zu werden, bedarf es aber nicht nur einer optimalen Technik, sondern darüber hinaus der engen vertrauensvollen Zusammenarbeit aller am Aufnahmeprozess beteiligten Personen, um so in einer Atmosphäre gegenseitiger Akzeptanz und Hilfestellung die gewünschte Klangästhetik realisieren zu können. Namhafte Künstler, die mit organo phon zusammenarbeiten, wissen dies zu schätzen. Mehr Info... |
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