
Scartazzini, Andrea Lorenzo - Edward II.
Sinnlich, kraftvoll und doch brav
Label/Verlag: OehmsClassics
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Die Veröffentlichung von Scartazzinis 'Edward II.' dokumentiert ein Stück lebendigen zeitgenössischen Musiktheaters, das zwar niemandem wehtut, aber als pures Hörerlebnis auch keine Jubelstürme auslöst.
Die Veröffentlichung von Andrea Lorenzo Scartazzinis 'Edward II.' dokumentiert ein Stück lebendigen zeitgenössischen Musiktheaters, das zwar niemandem wehtut, aber als pures Hörerlebnis auch keine Jubelstürme auslöst. Vielleicht muss das eine neue Oper auch nicht zwingend. Vielleicht muss sie erst einmal die Chance bekommen, sich aus dem Schatten ihrer Schöpfer in die Freiheit zu begeben, neue Bildwelten zu erobern und begeisterte Anhänger zu gewinnen.
Scartazzinis Oper 'Edward II.' feierte im Februar diesen Jahres an der Deutschen Oper Berlin ihre Uraufführung. Die Geschichte vom schwulen englischen König, der als Konsequenz für seine Sexualität und machtpolitische Intrigen qualvoll hingerichtet wird, stützt sich zum einen auf entsprechend zurecht gerückte historische Überlieferungen wie auf das Sex-and-Crime-Schauspiel vom Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe. Ein wirklicher Aufreger dürfte das Sujet in Berlin nicht gewesen sein, vielmehr dient es als Folie, Homophobie, Menschenhass und die Verführbarkeit der Massen zu entlarven. Der Stoff ist in dieser Hinsicht fraglos aktuell, wenn auch das Libretto von Thomas Jonigk oft sehr bemüht daherkommt. Kleine Gags und moderne Umgangssprache schaffen Distanz zum grausamen Bühnengeschehen, sind aber letztlich unnötiger Zierrat in einem eigentlich starken Stück, das dadurch leider kleiner wirkt. Wäre dieser Hang zu holpriger Komik und zu allerhand bedeutungsschwangeren Assoziationen nicht, könnte die Opernbühne um ein wunderbares Liebespaar reicher sein: Edward und Gaveston. Ja, ihre Liebe bringt ihnen den Tod – ein letztlich traditionelles Rezept für packendes Musiktheater –, aber von dieser Liebe wird in Jonigks Oper wenig erzählt und Scartazzinis Musik lässt dafür auch wenig Raum.
Davon abgesehen ist Jonigks Sprache kraftvoll und sparsam, wenige Wörter reichen, um Situationen klar zu umreißen. Diese Erzählweise spielt dem Basler Komponisten Scartazzini kongenial in die Hände. Er schreibt unverstellte Seelenmusik, die den Protagonisten große Sangbarkeit ermöglicht und den Zuhörer emotional erreicht. Im Orchestergraben geht es trotz großer Besetzung sehr differenziert zu, feine kammermusikalische Passagen kontrastieren effektvoll mit Klangerruptionen, Synthesizer und Glasharfe setzen irritierende Akzente und vom Geräusch bis zur Melodie kennt Scartazzini keine Scheu. Der Komponist hat ein gutes Gespür für Theatralität, die sich gerade bei einer CD-Veröffentlichung, die auf alle optischen Reize und Erklärungsversuche verzichten muss, auszahlt.
So ist der beim Label Oehms erschienene Mitschnitt aus der Uraufführungsserie ein gut zu konsumierender Opernabend für die Ohren. Bügelmusik ist dieser 'Edward II.' freilich nicht, aber wer sich die 90 Minuten Spieldauer Zeit nimmt und offenen Ohres dem Geschehen lauscht, dem erschließt sich das Kunstwerk problemlos. Denn wirklich neuartig, verstörend oder gar experimentell ist Scartazzinis neue Oper wahrlich nicht. Vieles klingt regelrecht vertraut. Die klanglichen Effekte einzelner Instrumentengruppen stehen in bester Tradition zu großen Vorgängern und stünde dieser Oper nicht ein hervorragendes Solistenensemble und der grandiose Chor der Deutschen Oper zur Verfügung, könnte sich beim Hörer sogar vereinzelt Langeweile entwickeln.
Das verhindern aber der Bariton Michael Nagy als intensiver Edward, der mit klarer Artikulation und kraftvoller Verve eine Lanze für die tragische Titelfigur und ihre Musikalisierung bricht. Auch Ladislav Elgr holt aus der Partie des Gaveston alles Erdenkliche heraus, hat aber in der tiefen Tessituara wenig Chancen seinen Tenor in klangvoller Lage zum Strahlen zu bringen. Als verschmähte Gattin Isabella zeichnet Agneta Eichenholz das zwingende Porträt einer verzweifelten Frau, die im Laufe der Geschichte emotional erstarrt. Eindrücklich gelingen der schwedischen Sopranistin ihre starken Szenen zwischen glutvollem Schrei nach Liebe und eisiger Kälte. Am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin entlockt Thomas Sondergard der Partitur größtmögliche Transparenz und Sinnlichkeit.
Als distanzierende Komiker machen Markus Brück und Gideon Poppe ihre Sache tadellos und schmerzbefreit, während Andrew Harris als Mortimer auf Tonträger farblos und angestrengt klingt. Burkhard Ulrich schwingt als Bischof von Coventry den breiten, schonungslosen Pinsel und erzielt damit durchaus Effekt. Vor James Kryshak als Mörder Lightborn kann man sich ob der Eiseskälte und sezierenden Textdeutlichkeit tatsächlich fürchten und Jared Ott stattet den Engel mit verführerischem Bariton aus. Den nachhaltigsten Eindruck hinterlässt allerdings der Knabensopran von Mattis van Hasselt in der Rolle des jungen Prinzen. Sein Monolog von der Tötung Gavestons ist ein wirklich gelungener Theatercoup und auch im kurzen Terzett vor der Ermordung Edwards ist seine Stimme von überirdischer Schönheit.
Die Veröffentlichung des Mitschnitts dokumentiert das unbeirrte Bemühen der Deutschen Oper um zeitgenössisches Musiktheater und überrascht mit der unaufgeregten und selbstsicheren „Traditionalität“ einer heutigen Oper. Allein für den Mut und die Überzeugung, dass es für zeitgenössische Oper Käufer und Hörer gibt, gebührt dem Label Dank. So wird hoffentlich vermieden, dass ‚Edward II.‘ nach seiner Uraufführung ein schnelles Vergessen droht.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Scartazzini, Andrea Lorenzo: Edward II. |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
OehmsClassics 2 27.10.2017 |
Medium:
EAN: |
CD
4260034869691 |
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OehmsClassics Ein erfülltes Leben ist ohne Musik kaum denkbar. Musik spiegelt unsere Wahrnehmung der Umwelt und die Realität heutiger wie vergangener Zeiten. Gute Musik ist immer neu, immer frisch, immer wieder entdeckenswert. Deshalb bin ich überzeugt: Es gibt nicht -die- eine, definitive, beste Interpretation der großen Werke der Musikgeschichte. Und genau das macht klassische Musik so spannend: Jede Musikergenerationen experimentiert, entdeckt neue Blickwinkel, setzt unterschiedliche Schwerpunkte - derselbe Notentext wird immer wieder von anderen Strömungen belebt. Deshalb ist ein Musikstück, egal aus welchem Jahrhundert, auch immer Neue Musik. OehmsClassics hat es sich zur Aufgabe gemacht, am Entdecken der neuen Seiten der klassischen Musik mitzuwirken. Unser Respekt vor den künstlerischen Leistungen der legendären Interpreten ist gewiss. Unser Ziel als junges CD-Label sehen wir jedoch darin, den interpretatorischen Stil der Gegenwart zu dokumentieren. Junge Künstler am Anfang einer internationalen Karriere und etablierte Künstler, die neue Blickwinkel in die Interpretationsgeschichte einbringen - sie unterstützen wir ganz besonders und geben ihnen ein Forum, um auf dem Tonträgermarkt präsent zu sein. Sie, liebe Musikhörer, bekommen damit die Gelegenheit, heute die Musikaufführung zu Hause nachzuvollziehen, die Sie gestern erst im Konzertsaal oder Opernhaus gehört haben. Wir laden Sie ein, gemeinsam mit uns die neuen Seiten der klassischen Musik zu erleben!
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