
Kagel, Mauricio - Klavierwerke
Eigenes in Eigenem
Label/Verlag: WERGO
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Die Pianistin Sabine Liebner überzeugt mit einer klugen und durchdachten Anordnung von Klavierstücken Mauricio Kagels.
Aufgrund ihrer vor allem Werke aus der Zeit nach 1950 einbeziehenden Repertoirewahl bleibt Sabine Liebner nach wie vor eine Ausnahme unter den zeitgenössischen Pianistinnen. Nachdem sie während der vergangenen Jahre bei ihrem Stammlabel Wergo vor allem mit Kompositionen von John Cage, Morton Feldman, Earle Brown und Giacinto Scelsi geglänzt hat, wendet sich ihre neueste Veröffentlichung dem Schaffen Mauricio Kagels zu. Damit schafft Liebner eine gewichtige Alternative zur hervorragenden Einspielung von Paolo Alvarez, der 2003 bei cpo eine Doppel-CD mit sämtlichen damals verfügbaren Klavierwerken des Komponisten vorgelegt hatte. Allerdings geht es der Pianistin nicht um Vollständigkeit, sondern - das macht die außerordentliche Veröffentlichung gleich in mehrfacher Hinsicht deutlich - um eine kluge Anordnung der ausgewählten Stücke.
Als roter Faden der Produktion dient das 1961 entstandene 'Metapiece (Mimetics)', bei dessen Umsetzung Liebner auf die von Kagel vorgegebene konzeptuelle Öffnung setzt: Kann doch das Stück in unterschiedlichen, auch simultan erklingenden Kontexten vorgetragen werden, was eine Konfrontation der Partitur mit anderer, nicht unbedingt vom Komponisten selbst stammender Musik erlaubt. Die Pianistin nutzt diese Realisierungsmöglichkeit ein, um Kagels Werke aus unterschiedlichen Entstehungszeiten miteinander in Beziehung zu setzen. So umrahmt sie einerseits mit einzelnen Abschnitten von 'Metapiece' die vier Stücke der frühen 'Cuatro piezas para piano' (1954) oder den zusammenhängenden musikalischen Diskurs von 'MM 51' (1976), während sie andererseits der Klavieretüde 'An Tasten' (1977) den Notentext von 'Metapiece' hinzufügt und ihn – seiner Autonomie beraubt – simultan zum jüngeren Stück anordnet, um dann schließlich als letzten Teil der CD noch eine furiose 24-minütige Soloversion des 'Metapiece' zu präsentieren.
Dieses in höchstem Maße durchdachte Gefüge, im hervorragenden Booklettext von Pia Steigerwald als interpretatorische Arbeit mit 'Eigenem in Eigenem' bezeichnet und in seinen Konsequenzen ausführlich beschrieben, ermöglicht es Liebner, versteckte Bezüge zwischen den stark differierenden Werkansätzen herzustellen und Kagels Musik im Sinn eines Selbstkommentars zu benutzen. In Bezug auf die hier erstmals eingespielten 'Cuatro piezas' zeigt die Pianistin etwa, wie Spuren der flexibel gehandhabten Zwölftontechnik aus dem frühen Werk sich in die Akkordbildung, Registerbehandlung oder den musikalischen Gestus des sieben Jahre jüngeren Stücks hinein fortpflanzen. Im Hinblick auf die Gleichzeitigkeit von 'Metapiece' und der vorwiegend aus konventionellen Dur-, Moll-, verminderten und übermäßigen Dreiklängen in Grundpositionen und Umkehrungen gespeisten Klavieretüde hingegen zeichnet sich das konzeptuell offene Stück als Störfaktor ab, der die rigorose Materialbehandlung der Etüde samt ihrer Verwendung vertrauter Wendungen immer wieder zugunsten anders gearteter Hörereignisse aufbricht. Das Gegenüber von 'Metapiece' und 'MM 51' wiederum führt regelrecht auf die im Untertitel vielsagend als 'ein Stück Filmmusik für Klavier' bezeichnete Komposition und den darin eingefangenen Diskurs über Funktionsweisen und Assoziationsräume von Filmmusikklischees hin.
Ergebnis all dessen ist eine plastische und aufnahmetechnisch detailreiche CD, die den Zuhörer auf ungewöhnliche Weise in die Welt von Kagels Klaviermusik einführt. Wie gekonnt Liebner ihren Vortrag in den Dienst der musikalischen Brechungen stellt, indem sie etwa die weichen oder gezackten melodischen Bewegungen mal pointiert, mit präzisem und trockenem Anschlag, mal mit kantablem Legato nachzeichnet, wie sie aber auch Passagen voller zarter Klangentfaltung einstreut und schließlich gar in 'MM 51' ihren Vortrag ganz selbstverständlich auf die immanente Theatralität des einkomponierten, gehässigen Lachens ausweitet, hat große Klasse. Die Veröffentlichung zeugt daher einmal mehr von den Qualitäten einer Interpretin, die sich mit ihrem ganzen Können der jüngeren Klaviermusik verschrieben hat und ihre Liebe zu diesem Repertoire anhand ausgefeilter CD-Konzeptionen zum Besten gibt.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Kagel, Mauricio: Klavierwerke |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
WERGO 1 27.10.2017 |
Medium:
EAN: |
CD
4010228736328 |
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Kagel, Mauricio |
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WERGO Als 1962 die erste Veröffentlichung des Labels WERGO erschien - Schönbergs "Pierrot lunaire" mit der Domaine musicale unter Pierre Boulez -, war dies ein Wagnis, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Werner Goldschmidt, ein Kunsthistoriker, Sammler und Enthusiast im besten Sinne, war es, der - gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer - den Grundstein zu dem Label legte, das seit inzwischen 50 Jahren zu den führenden Labels mit Musik unserer Zeit zählt. Mehr Info... |
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