
Handel in Italy - Vokalwerke von Georg Friedrich Händel
Händel in Italien
Label/Verlag: Brilliant classics
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Italienisches von Händel: Da kann unter anderem das Ensemble Contrasto Armonico glänzen, die Gesangssolisten allerdings lassen auch manche Wünsche offen.
‚Kantaten, Arien, Serenata’ lautet der Untertitel dieser 14-CD-Box, die in ungewohntem Reichtum Händels italienische Jahre 1706–1710 erkundet. Keineswegs umfassend, das sei gleich dazu gesagt – geistliche Musik fehlt in dieser Edition komplett. Dafür sind Solokantaten (bevorzugt für Sopran) eindeutiges Zentrum der Box (6 CDs). Der größte Teil der Einspielung entstammt den Jahren ab 2005, mit nur drei Ausnahmen, die als Höhepunkte der Edition bezeichnet werden müssen.
Das Ensemble Contrasto Armonico wurde 2004 gegründet und hat sich von Anfang an vor allem durch Händel-Interpretationen profiliert. Das Ensemble spielt (in Aufnahmen aus den Jahren 2007–2010) unaufgeregt historisch informiert – ohne Extreme, aber auch ohne Fehler. Die kanadische Sopranistin Stefanie True darf koloraturenreich und -sicher und mit geläufiger und feinsinniger Stimme die absolute Mehrheit der Werke in dieser Edition interpretieren – ihr sind nicht weniger als zwei Solokantaten-CDs anvertraut, auf zwei weiteren CDs wird sie (in den Kantaten 'Arresta il passo/Aminta e Fillide' und 'Sans y penser') durch die niederländische Sopranistin Klaartje van Veldhoven unterstützt (Veldhoven darf auch eine Solokantate übernehmen), und in 'Aci, Galatea e Polifemo' (ebenfalls 2 CDs) hat sie als Partner Luciana Mancini und Mitchell Sandler. True beherrscht das Metier unzweifelhaft, doch ist ihre Stimme auf die Dauer etwas monochrom. Triller werden unsicher gestaltet, Haltetöne werden unruhig, das Forte tendiert gen Metall, das Piano gen Eindimensionalität. In schmaleren Dosen sind ihre Interpretationen aber durchaus attraktiv, nicht zuletzt weil Contrasto Armonico unter Marco Vitale sein Metier unzweifelhaft beherrscht; doch beeinträchtigt der eine oder andere Ton immer wieder einmal die Gesangslinie, so dass man anderswo nach noch perfekteren, dramatisch packenderen Interpretationen suchen wird. Klaartje van Veldhoven bietet einen nahezu ideal instrumental geführten Sopran mit schöner Tiefe und gelegentlich aufscheinendem schnellen Vibrato; im Vergleich zu den Hyperion- und Glossa-Interpretationen von 'Arresta il passo' muss sie als der insgesamt musikalisch überzeugendste Aminta bezeichnet werden. Leider kann True ihr Niveau nicht ganz halten, so dass von einer Referenzeinspielung dennoch nicht zu sprechen ist. Vielleicht am, gelungendsten von den Einspielungen von Contrasto Armonico ist 'Aci, Galatea e Polifemo', auch weil True (Aci) und Mancini (Galatea) wunderbar harmonieren und so Trues Schärfen gemildert werden. Doch bleiben auch hier die Triller ein Problem. Doch ist auch 'Aci, Galatea e Polifemo' ein diskografisch durchaus beliebtes Werk, und mit den besten Einspielungen der Vergangenheit (Emmanuelle Haïm, Charles Medlam) kann die Neuaufnahme nicht ganz mithalten.
In unmittelbarem Dialog mit den True-Aufnahmen muss man die CD mit Valentina Varriale und dem Ensemble Mvsica Perdvta sehen – bietet die CD doch eine zweite Einspielung der Kantate 'Tra le fiamme'. Leider leidet Varriales Stimme an ähnlichen Schwächen wie Trues – vor allem unkontrolliertes Vibrato bei Haltetöne, aber auch eine nicht ganz kontrollierte Klangformung. Mvsica Perdvta bietet (in Aufnahmen aus den Jahren 2010–2012) aber ein um ein Vielfaches farbenreicheres instrumentales Klangspektrum als Contrasto Armonico, was aber durch die Solistin nicht zu voller Wirkung kommen kann.
Die Musica ad Rhenum-CD der Kantate 'Apollo e Dafne' mit den Solisten Nicola Wemyss und Tom Sol aus dem Jahr 2006 kann der übermächtigen Konkurrenz (Roberta Alexander, Nancy Argenta, Karina Gauvin, Roberta Invernizzi und Russell Braun, Michael George, Thomas Hampson und David Thomas) nicht Paroli bieten, selbst wenn manche Einspielung weniger gute Aufnahmeakustik aufbieten mag. Zu groß ist anderswo das musikdramatische Bewusstsein der Mitwirkenden, zu zurückhaltend-„anständig“ der instrumentale Anteil. Wäre der Markt nicht so dicht mit älteren Aufnahmen beherrscht, könnte die Produktion unter den neueren Einspielungen durchaus ihren Platz behaupten, aber nicht mit Blick auf die komplette Diskografie der Kantate. Ärgerlicher noch der ‚Filler’ der CD – die Schauspielmusik 'The Alchemist', die von unbekannter Hand 1710 für das Londoner Queen’s Theatre aus italienischen Händel-Opern zusammengestellt wurde, die aber in das Konzept der Gesamtedition in keinster Weise passt: Keine der italienischen Opern ist vollständig oder im Auszug geboten.
Auch eine 2014 in Spanien mit dem Ensemble Recóndita Armonía entstandene CD mit den Kantaten 'Ah, che pur troppo è vero', 'Dolce pur d’amor l’affanno' und 'Care selve, aure grate' passt nicht ganz in das Konzept der Edition, zwei Sonaten sind zwischen die Kantaten interpoliert (nur am Rande sei hier erwähnt, dass nicht alle italienischen Kantaten Händels auch in Italien komponiert sind). Dies ist sehr bedauerlich, weil das Timbre des Tenors Jorge Juan Morata zwar nicht typisch für italienische Kantaten und seine Aussprache immer wieder extrem erratisch ist, seine Stimme aber von balsamischem Wohllaut und auch der Instrumentalklang von ganz eigenem – wenn auch unidiomatischem – Charme (mit prominenter Harfe) ist. Die Phrasierungsbögen werden von allen Interpreten besonders hervorgehoben, zu beeindruckendem Effekt. Man wünschte sich nur, dass offenkundig falsche Töne korrigiert worden wäre und ein Sprachcoach dem Tenor das Italienische eingetrichtert hätte.
Gemma Bertagnolli und Susanne Rydén sind die Gesangssolistinnen einer CD mit Duetten (die auf der Box proklamierten Arien fehlen in der Box), von deren sechs eines von Reinhard Keiser stammt; statt eine respektable Anzahl an Originalduetten vorzulegen, ergänzen sechs Instrumentalstücke, gespielt von den Harmonices Mundi unter Claudio Astronio, die Duette. Die denkbar kurze CD (knapp 47 Minuten) enttäuscht so vor allem editorisch, während sie musikalisch eine beachtliche Leistung darstellt, die aber mit den beiden ganz Händels italienischen Duetten gewidmeten CDs (mit Gillian Fisher und James Bowman auf Hyperion sowie Natalie Dessay, Véronique Gens, Sara Mingardo, Brian Asawa und anderen auf Virgin) (mit jeweils neun Duetten) in keinem Fall mithalten kann.
Kommen wir zu den vier CDs in Lizenz verschiedener Labels. Von Capriccio kommen zwei Kantaten mit der lyrischen Sopranistin Veronika Winter und Das kleinen Konzert unter Hermann Max (2005) – ausgesprochen pastoral introvertierte Werke. Winter verfügt über fast knabenhaft-weichen Sopran, so dass sich ein dramatischer Effekt sich von vornherein bewusst verbietet. Leider sind ihre Intonation immer wieder etwas unstet und die Verzierungen nicht ganz sicher – ebenfalls im Grunde eine noch ‚unfertige’ Stimme spiegelnd. Jochen Kowalski und die Akademie für Alte Musik Berlin bieten 1988 vier Kantaten in großer klanglicher Vielfalt und dramatischer Ausdruckskraft; es bleibt nur bedauerlich und ärgerlich, dass nicht die komplette Capriccio-CD mit weiteren sieben Minuten, die ohne Not auf die Brilliant-CD gepasst hätten, vorgelegt wurde ('Dolce pur d’amor l‘affanno'); so kann ich diese zwar etwas bejahrte (aspirierte Melismen), interpretatorisch aber insgesamt dennoch zeitlose Silberscheibe nicht ad acta legen.
Ebenfalls aus dem Jahr 1988 stammen die Kantaten 'Notte placida e cheta' und 'Ero e Leandro' sowie 'Il duello amoroso' mit Mária Zádori und Ralf Popken sowie der legendären Capella Savaria unter Pál Németh; hier endlich kann man hören, wie Koloraturen klingen müssen, wie Spitzentöne sitzen müssen, wie man musikalische Stimmungen erzeugt ohne Zugeständnisse bedingt durch die Fähigkeiten der Musiker. Zádoris Stimme mag manchem etwas spitz und kühl klingen – andererseits ist sie klar fokussiert, absolut intonations- und stilsicher, hat einen jugendlichen Charme ohne kindliche Unsicherheiten, ist aber auch dramatischer Attacke fähig. Popken ist ein stilsicherer Händel-Countertenor (wenn auch vielleicht nicht der allerersten Riege), und die Capella Savaria hat sich über Jahrzehnte bewährt. Selbst wen die drei Werke nicht von vornherein überzeugen – auf der vorliegenden Platte nehmen sie für sich ein und werden zu einem der Höhepunkte der Box.
Nicht ganz so einnehmend ist die zweite CD mit Mária Zádori, aus dem Jahr 1995 mit dem Ensemble Concerto Armonico; ihre Stimme ist gereift, hat dadurch auch etwas von ihrer jugendlichen Frische verloren. Jetzt erinnert sie ein wenig an Agnes Giebel, Erna Berger und Mady Mesplé – immer noch nicht die schlechteste Referenz, und immer noch Stefanie True überlegen. Die beiden Kantaten „Crudel tiranno Amor“ und „Agrippina condotta a morire“ kann Zádori so allerdings durchaus mit Kraft und explosiver Emotion füllen (auch wenn Intonation und Klangschönheit etwas leiden), und ihre Emotion wirkt direkter als in „Agrippina“ etwa Véronique Gens (Virgin).
Eine dritte Hungaroton-Platte, aus dem Jahr 2005, bietet die Sopranistin Anna Korondi, den Cellisten Rezsö Pertorini und die Cembalistin Judit Péteri auf; Korondi ist eher True oder Varriale vergleichbar – auch hier also Intonationstrübungen, zu starkes Vibrato, nicht ganz kontrollierte Klangformung, dazu eine gewisse Forcierung in der Höhe. Korondis Stimme scheint etwas größer als jene Trues zu sein, doch weiß die Sängerin ihren Druck geschmackvoll zurückzuhalten.
Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass die vorliegende Edition nicht die besten Blüten heutigen Händelgesangs bieten kann, dafür aber zeitlose Schätze der vergangenen zwanzig Jahre. Das Booklet gibt hinreichende Informationen (nur auf Englisch), Libretti aber werden nicht geboten. Für eingefleischte Händelianer sicher die Erkundung wert – für Gesangsfetischisten eher eine ‚mixed bag’.
Interpretation: Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Handel in Italy: Vokalwerke von Georg Friedrich Händel |
|||
Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Brilliant classics 14 04.08.2017 |
Medium:
EAN: |
CD
5028421954967 |
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