
Tinctoris, Johannes - Chansons, Motteten, Messen, Instrumentalmusik
Praktische Schönheit
Label/Verlag: Ricercar
Detailinformationen zum besprochenen Titel
Baptiste Romain und sein Ensemble Le Miroir de Musique behaupten das kompositorische Gewicht des Johannes Tinctoris nicht sie zeigen es einfach eindrucksvoll, in großer Lebendigkeit und natürlicher Frische.
Die musikpraktische Ehrenrettung vormals vor allem als Theoretiker bekannter und musikhistorisch verbuchter Größen gelingt mit sehr unterschiedlichem Erfolg: Jean-Philippe Rameau ist in der heutigen, von unermüdlicher Arbeit historisch informierter Praxis geprägten Wahrnehmung beinahe schon eher Komponist denn Theoretiker; Michael Praetorius ist jedenfalls auf dem Weg dorthin. Gioseffo Zarlino ist von diesem Status trotz diskografisch hochkarätiger Ehrenrettung zum Beispiel durch Singer Pur noch ein gutes Stück entfernt. Und auch der aktuell von Baptiste Romain und seinem Ensemble Le Miroir de Musique zur Diskussion gestellte Johannes Tinctoris darf trotz einer knappen Hand voll produzierter, interpretatorisch keinesfalls durchweg hochklassiger Platten noch nicht selbstverständlich in erster Linie als Komponist gelten. Wobei – das muss eingeräumt werden – dieser kursorische Streifzug durch Zeiten und Epochen kaum tatsächlichen Vergleich ermöglicht und gerade in der Gewichtung des Kontextpaars Theorie und Praxis notwendigerweise unscharf bleibt.
Dass Tinctoris ein großartiger Kontrapunktiker, weit jenseits des bloß Regelgerechten war, zeigen Romain und seine Mitstreiter in den beeindruckenden Architekturen der 'Missa L‘homme armé' oder der 'Missa sine nomine' sehr deutlich. Auch die großen Motetten deuten, in größerer Freiheit gehalten, in diese Richtung. Und manches Rondeau, komplex und fasslich zugleich, beweist, dass Tinctoris ein Meister feinen Klangsinns war, der seinen prominenten Zeitgenossen nicht nachstand. Eine in der Summe überaus lohnende Begegnung also.
Kompetent und entschlossen
In den Messsätzen beweist die vokale Besetzung eine enorme Autorität und Expertise, formen sich die individuellen Farben zu einem formidablen, im Klang charismatischen Ensemble. Dafür stehen Namen wie Sabine Lutzenberger, Bernd Oliver Fröhlich, Tim Scott Whiteley, David Munderloh oder Elam Rotem. Auch solistisch bringen die Akteure Fantasie, Nuancierungskunst und eine geschmeidig gestaltete Linearität ein. Und sie suchen nicht nur reinen Schönklang, sondern gehen für eine gesteigerte Wirkung auch Risiken ein. Heikle Gewebe werden mit großer Eleganz phrasiert, rhythmische Vertracktheit gleichermaßen souverän entfaltend wie subtil in den Klangstrom integrierend.
Die erklingenden Instrumente sind sehr viel mehr als bloße klangliche Ergänzung: Sie sind gleichrangiges Komplement, agieren selbstbewusst auf Augenhöhe, sind an der Schaffung der feinen Gewebe substanziell beteiligt. Vor allem zarte Farben bestimmen das Bild – Vielle, Rebec, Harfe oder Laute liefern luzide Beiträge. Intoniert wird gemeinsam ohne Schwächen; die charmanten Eigenarten der Instrumente bereichern das Bild sehr gelungen. Technisch ist die Realisierung überzeugend, wirkt das Bild gesammelt und konzentriert, ist es ein feines Porträt der oft heiklen Konstellationen.
Fazit: Eine großartige Platte, voller Qualität und Inspiration. Baptiste Romain und sein Ensemble Le Miroir de Musique behaupten das kompositorische Gewicht des Johannes Tinctoris nicht – sie zeigen es einfach eindrucksvoll, in großer Lebendigkeit und natürlicher Frische.
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Detail-Informationen zum vorliegenden Titel:
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Tinctoris, Johannes: Chansons, Motteten, Messen, Instrumentalmusik |
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Label: Anzahl Medien: Veröffentlichung: |
Ricercar 1 02.06.2017 |
Medium:
EAN: |
CD
5400439003804 |
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Ricercar Von Haus aus Musikwissenschaftler und Gambist (und hier immerhin Schüler von Wieland Kuijken), gründete der Belgier Jérôme Lejeune 1980 sein Label RICERCAR, das schnell zu einem der wichtigsten im Bereich der Alten Musik wurde. Das war nicht nur durch die musikwissenschaftliche Arbeit Lejeunes nahe liegend, sondern auch dem Umstand geschuldet, dass Belgien von je her zu den führenden Nationen im Bereich der historischen Aufführungspraxis gehörte. Die Künstler, die für RICERCAR aufnehmen bzw. aufgenommen haben, lesen sich ohne Übertreibung wie das Who-is-Who der Alten Musik-Szene: Hier machte zum Beispiel Philippe Herreweghe genauso seine allerersten Aufnahmen wie das Ricercar Consort, Jos van Immerseel oder Mark Minkowski (sowohl als Fagottist als auch als Dirigent). Zu den Künstlern und Ensembles, die derzeit dem Label verbunden sind, gehören so prominente Namen wie der Organist Bernard Foccroulle, die Sopranistin Sophie Karthäuser sowie die Ensemble La Fenice und Continens Paradisi. Nach wie vor bietet Lejeune dabei jungen Künstlern und Ensembles eine künstlerische Plattform und er beweist dabei stets ein besonders glückliches Händchen. Viele der nicht weniger als 250 Aufnahmen, die hier veröffentlicht wurden, waren klingende Lektionen in Musikgeschichte, die in mehrteiligen Reihen solche Themen wie Bach und seine Vorgänger, die franko-flämische Polyphonie oder Instrumentenkunde behandelten und so etwas wie zu einem Markenzeichen des Labels wurden. Das erstaunliche dabei war auch, dass nahezu alle Produktionen des Labels von Lejeune sowohl wissenschaftlich als künstlerisch und technisch betreut wurden. Mehr Info... |
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